Archive stiften Identität und fördern den demokratischen Zusammenhalt

Dokumente zu sammeln und zu kuratieren, erfordert viel Knowhow und noch mehr Zeit. Doch was passiert in einem audiovisuellen Archiv? Und warum ist nicht jeder historische Film auf YouTube zu sehen?

Es ist ein unvergesslicher Moment der Schweizer Fernsehgeschichte. In der Tagesschau vom 3. Februar 1987 stülpt sich der renommierte Nachrichtensprecher Charles Clerc ein Kondom über den Mittelfinger. «Dieses kleine Ding kann über Leben und Tod entscheiden», sagt er mit ernster Miene. «Daran ändern weder erotische noch ästhetische oder moralische Bedenken etwas.»

Diese kurze Moderation erregt internationales Aufsehen. Es ist der Höhepunkt der Aids-Pandemie und Charles Clerc gelingt es, die Brisanz des Themas zu vermitteln, ohne es dabei ins Lächerliche zu ziehen.

Wer möchte, kann sich die Szene heute im Internet ansehen. Der Clip ist auf YouTube und im Onlinearchiv der SRG für die Nachwelt gesichert. Was aber die wenigsten wissen: Es hätte nicht viel gefehlt und dieser ikonische Fernsehmoment wäre für immer verloren gewesen.

Charles Clerc stülpt sich vor laufender Kamera ein Kondom über den Finger (Tagesschau, 3.02.1987)

Die SRG archiviert heute konsequent alle gesendeten Inhalte. Das war nicht immer so: Live-Fernsehen wurde bis in die 1990er-Jahre kaum oder gar nicht aufgezeichnet und auch beim Archivieren von voraufgenommenen Sendungsinhalten beschränkte man sich aus Platz- und Kostengründen auf wiederverwendbares Material. Charles Clercs Tagesschau-Moderation hatte ihren Zweck mit der Ausstrahlung erfüllt und wurde darum – im Gegensatz zu den restlichen Nachrichten – nicht gespeichert. Wozu auch? Ein zweites Mal konnte sie schliesslich nicht verwendet werden.

Dass wir dieses Stück Fernsehgeschichte heute noch anschauen können, über 30 Jahre nach der Ausstrahlung, ist einer privaten Person zu verdanken, die zufällig genau diese Ausgabe der Tagesschau auf ihrem Fernseher zu Hause aufgenommen hatte. Das war nur der erste von weiteren Zufällen: Denn diese Person hat die Kassette nicht mit etwas anderem überspielt, sie nicht weggeworfen und auch nicht verloren. Und als Archivmitarbeitende nach genau diesem Clip suchten, hat sie sich gemeldet. Eine Geschichte mit Happy End, die in den meisten Fällen ganz anders ausgeht.

Die Geschichte illustriert die Herausforderungen audiovisueller Archive. Vom Sammeln des Materials über die Restaurierung bis hin zur Digitalisierung ist es ein langer Weg. Aber welche Dokumente haben überhaupt einen Mehrwert für zukünftige Generationen? Wie wird der definiert? Und vor allem: Von wem?

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Das Material fängt erst zu leben an, wenn es sichtbar wird.»
Peter Fasnacht, Vorstandsmitglied des Vereins «Lichtspiel»
Die gefälschten Zeppelin-Fotos

Peter Fasnacht kennt seine Filme wie alte Freunde. Selbst in der hundertsten Aufnahme eines sonntäglichen Familienspaziergangs entdeckt er am Bildrand noch kleine Überraschungen, die den Mund unter seinem Walrossschnauz zum Schmunzeln bringen.

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Peter Fasnacht im Archiv

Fasnacht ist Redakteur der Bieler Datenbank (Memreg) und im Vorstand des Vereins «Lichtspiel» in Bern. Der Verein sammelt audiovisuelles Material, dokumentiert und kontextualisiert jedes Dokument und macht das Archiv für die Öffentlichkeit zugänglich. «Dadurch bekommen unsere gesammelten Schätze einen Wert», sagt Fasnacht. «Das Material fängt erst zu leben an, wenn es sichtbar wird.»

Die Schatzkammer des Archivs ist der Kühlraum. Er beherbergt derzeit rund 30 000 Film- und Tondokumente bei zehn Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 40 Prozent. Das sind die idealen Voraussetzungen für seine stummen Bewohner, die in runde Metallbüchsen verpackt auf deckenhohen Regalen schlummern, bis sie Peter Fasnacht, im wahrsten Sinne des Wortes, wieder ins Licht holt.

Impressionen aus dem Kühlraum

Fasnacht schaut sich jeden Film an, der neu ins Archiv kommt, und notiert in Stichworten, was darauf zu sehen ist. Viele Filme aus privaten Sammlungen tragen Namen wie «Ferien im Oberland» oder «Hans Geburtstag». «In welchem Oberland?», fragt Fasnacht dann. «In welchem Jahr?» Und: «Wer zur Hölle ist Hans?

Fasnacht erinnert sich an einen Film, der einen gewöhnlichen Sommertag am Bielersee dokumentiert. Leute auf Booten, auf der Strasse spielen Kinder. Und plötzlich, der Film ist schon fast zu Ende, schwenkt die Kamera abrupt zum Himmel. Dort bewegt sich «wie eine Zigarre» ein Zeppelin in Richtung Süden.

Der LZ 127 flog auf dem Weg nach Amerika zweimal über Biel. «Das war ein Erlebnis», sagt Peter Fasnacht. «Wenn wir Bilder davon sehen, denken wir, der Zeppelin wäre majestätisch über die schöne Landschaft geflogen. Dabei haben die Motoren einen Mordslärm gemacht!»

Mit dieser Aufnahme hat der Amateurfilmemacher 1929 ein einzigartiges Zeitdokument geschaffen. Der Zeppelin war nämlich sehr schnell unterwegs und niemand wusste genau, wann er wo vorbeifliegen würde. Bei den meisten Fotos, die den Zeppelin über Schweizer Städten zeigen, handelt es sich daher um bearbeitete Aufnahmen: Der Zeppelin wurde nachträglich in das Bild hineinmontiert. «Man erkennt das an den Zuschauern», sagt Peter Fasnacht. «Aufnahmen vom Strandbad Biel zeigen, wie der Zeppelin über die Köpfe der Leute hinwegfliegt – und die baden einfach weiter! Dass sie bei dem Lärm nicht hochgeschaut hätten, ist vollkommen unmöglich.»

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Luftschiff «Graf Zeppelin» über Biel

«Audiovisuelle Archive sind viel mehr und viel weniger als alles, was je ausgestrahlt wurde»

Lange Zeit konnten es sich Rundfunkanstalten gar nicht leisten, sämtliches Material aufzubewahren. Stärker als mit einem gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein hatte das vor allem mit den technischen Mitteln zu tun, die den Institutionen zur Verfügung standen – oder besser gesagt: die ihnen eben nicht zur Verfügung standen. «Der primäre Zweck von audiovisuellen Archiven», erklärt Brecht Declercq, «war nicht die Bewahrung von allgemeinem Kulturgut, sondern die Wiederverwendbarkeit des Materials.»

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So ein Videoband kostete in den 60er-Jahren ungefähr so viel wie ein Kleinwagen.»
Brecht Declercq, Direktor der audiovisuellen Archive der Radiotelevisione svizzera (RSI)

Brecht Declercq ist gelehrter Historiker und seit Januar 2023 Direktor der audiovisuellen Archive der Radiotelevisione svizzera (RSI). Erst als im Laufe der 1950er-Jahre die ersten Videobänder auf den Markt kamen, erzählt er, sei das direkte Aufzeichnen von Fernsehsendungen technisch in einer grösseren Regelmässigkeit möglich geworden.

«So ein Videoband kostete in den 60er-Jahren allerdings ungefähr so viel wie ein Kleinwagen», sagt Declercq. Es hatte aber auch einen grossen Vorteil: Man konnte das Band immer wieder neu bespielen. «In den Rundfunkanstalten standen grosse Entmagnetisierungsmaschinen. Ein magnetischer Strahl ging über das Ton- oder Videoband und der gesamte Inhalt auf dem Tape wurde gelöscht. Man nannte sie damals ‹Archiv-Vernichtungsmaschinen›.»

Mit dem technologischen Fortschritt wuchs auch das Bewusstsein für den Wert der Film- und Tondokumente. Am 27. Oktober 1980 veröffentlichte die UNESCO die  «Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder». Sie hob darin die kulturelle Bedeutung der Archivierung von audiovisuellem Material hervor und betonte die Notwendigkeit, Massnahmen zu ergreifen, um es für künftige Generationen zu erhalten.

Seit den 1990er-Jahren bewahrt die SRG alles auf, was sie sendet – und sogar, was sie nicht sendet. Denn nicht alles, was aufgenommen wird, landet am Ende auch in einer Sendung. Im Archiv dagegen schon. «Audiovisuelle Archive sind gleichzeitig viel mehr und viel weniger als alles, was je ausgestrahlt wurde», sagt Declercq.

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Ein Archiv zu führen, ist eine sehr aktive Tätigkeit.»
David Landolf, Leiter der «Lichtspiele» in Bern
«Beim Archivieren kann man nicht abkürzen»

Hat Peter Fasnacht einen Film zu Ende geschaut, war das erst die Vorarbeit des wirklichen Archivierungsprozesses. «Ein Archiv zu führen, ist eine sehr aktive Tätigkeit», sagt Fasnachts Kollege David Landolf, Leiter der «Lichtspiele» in Bern. Er und Fasnacht stehen gemeinsam im Eingangsbereich des Archivs, umzingelt von Kisten, die bis an den Rand mit Filmrollen, Videokassetten und Platten aller Art gefüllt sind. Es ist Material, das laufend neu aufgenommen wird und nur darauf wartet, bearbeitet zu werden.

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David Landolf (links) und Peter Fasnacht (rechts) im Archiv

Der Verein ist auf die Mithilfe von Freiwilligen, Zivis und Praktikant:innen zur Unterstützung des Kernteams angewiesen. «Dieser Raum zeigt, dass es eigentlich eine unlösbare Aufgabe ist, alles zu sichten, aufzuarbeiten und zu digitalisieren», sagt Landolf.

Ein:e Mitarbeiter:in schaut sich zunächst den Film an oder hört das Tonband ab, erfasst das Dokument in der Datenbank und verpackt es schliesslich archivtauglich in eine Metallbüchse, die im Kühlraum gelagert wird. Das allein dauert rund viermal so lange wie der Film selbst lang ist. Fasnacht nennt das eine «konservative Archivierung», denn: «Aktiv bearbeitet oder digitalisiert ist an dem Punkt noch nichts.»

Das passiert dann im Nebenraum. Nachdem der Film wieder aus dem Kühlraum geholt wird, muss er 24 Stunden akklimatisiert werden. Danach kontrolliert ihn ein:e Mitarbeiter:in auf seinen Zustand. Ist der Film lang genug, damit er überhaupt um die Rolle kommt – oder braucht er noch einen Vor- und Abspann? Der Film wird so lange in der Maschine justiert, bis Helligkeit und Bildausschnitt stimmen, dann wird er auf den Computer übertragen. Die Übertragung geschieht in halber Geschwindigkeit der echten Filmlaufzeit, nur so kann die Datenmenge überhaupt transportiert werden. «Ein hochaufgelöster Film füllt ein Terabyte», sagt Landolf. «Diese Daten zu kopieren, braucht Zeit.»

Ist der Film auf dem Computer, beginnt die eigentliche Arbeit: Der oder die Mitarbeitende korrigiert die Belichtung, hebt, wo nötig, Farben hervor und entfernt Kratzer. Das allein ist ein anspruchsvolles Thema, das die Gemüter spaltet: Wie viel darf an einem Zeitdokument korrigiert werden?

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Die Fehler, die in diesen Filmen drin sind, verleihen ihnen Authentizität. Das brauchen wir dringend in dieser Zeit der Fake News und gefälschten Dokumente.»
Peter Fasnacht

Es gibt durchaus berechtigte Gründe für Korrekturen. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist sich andere Qualitätsstandards gewohnt als das Publikum der 1950er-Jahre. Wird ein alter Film im Fernsehen ausgestrahlt, tendieren viele Leute dazu, wegzuschalten, weil sie Schwarzweiss nicht mögen, weil der Ton knistert oder die Farben zu blass sind. Kolorierte und aufgebesserte Versionen können alte Filme für ein jüngeres Publikum attraktiver machen und so deren Erbe lebendig halten. Zudem können sie so in Kinos und auf Streaming-Plattformen neu ausgestrahlt werden. Dadurch werden wiederum Einnahmen generiert, mit denen die Erhaltung anderer Filmklassiker weiter finanziert werden kann.

Dennoch stehen Fasnacht und Landolf dem Bearbeiten kritisch gegenüber. «Die Fehler, die in diesen Filmen drin sind, verleihen ihnen Authentizität», sagt Fasnacht. «Das brauchen wir dringend in dieser Zeit der Fake News und gefälschten Dokumente.»

Viel wertvoller sei es, findet Landolf, dem Publikum sichtbar zu machen, welcher Aufwand hinter einem restaurierten Film steht. «Wenn wir alte Filme vorführen, fragen die Leute oft, ob sie das auf YouTube nachschauen können. Dabei ist nur die alleroberste Spitze des Eisbergs überhaupt in digitalisierter Form zugänglich. Beim Archivieren kann man nicht abkürzen. Die Leute unterschätzen, was es bedeutet, selbst einen kurzen Film zu digitalisieren.» Der ganze Prozess dauere mindestens eine Woche.

Am Ende liegen dem Archiv neben dem analogen Medium drei digitale Elemente vor: Eine Festplatte wird vor Ort für den schnellen Zugriff gelagert. Das Medium wird zusätzlich auf zwei Kassetten kopiert, von denen eine ins Schweizer Filmarchiv geschickt wird, während die andere in einem externen Archiv gelagert wird. Selbst wenn einer dieser drei Orte brennen sollte, sagt Landolf mit einem gequälten Schmunzeln, ist der Inhalt doch in Sicherheit.

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Eine funktionierende Demokratie bedingt, dass sie nachvollziehbare Handlungen hat. Und Archive dienen dazu, das Funktionieren einer Gesellschaft nachvollziehbar zu machen.»
Felix Rauh, stv. Direktor von Memoriav
Archive als Grundlage für eine funktionierende Demokratie

Ein wichtiger Förderer für die Archivierungsprozesse der SRG-Datenbanken war bis 2018 der Verein Memoriav. 1995 gegründet, widmet er sich dem Auftrag, audiovisuelles schweizerisches Kulturgut zu erhalten und zu erschliessen. Ein grosser Teil der Bestände ist in der Onlinedatenbank Memobase öffentlich einsehbar.

Das Ziel von Memobase ist nicht nur, die Dateien in digitaler Form auszustellen, sondern sie auch in einen Kontext zu setzen. Wer hat das Bild, das Video, den Ton wann produziert und vor welchem Hintergrund?

«Eine funktionierende Demokratie bedingt, dass sie nachvollziehbare Handlungen hat», sagt Felix Rauh, stellvertretender Direktor von Memoriav. «Und Archive dienen dazu, das Funktionieren einer Gesellschaft nachvollziehbar zu machen.» Das gelte sowohl für öffentliche Ämter, deren Archive direkt vom Bund unterstützt werden, als auch für kulturelle Institutionen. «Gerade die Schweiz als sehr multikulturelles Land darf den emotionalen Wert von Bildern und Tönen nicht unterschätzen. Diese Medien gewinnen inzwischen auch immer mehr Beachtung in der Geschichtswissenschaft.» Und auch im Gesetz ist das Bewusstsein heute verankert. Mit der Revision des Rundfunkgesetzes, die 2016 in Kraft trat, ist die SRG verpflichtet, ihre Archive zu sichern und die Eigenproduktionen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Als Memobase 2001 ins Leben gerufen wurde, nahm das Internet gerade erst Anlauf. Das Portal funktionierte zunächst als Katalog, der Einsicht in die verfügbaren Dokumente gab und Auskunft erteilte, in welcher Institution sie einsehbar waren. «Der Prozess der Digitalisierung passiert immer noch», sagt Felix Rauh. «Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass alles, was jemals produziert wurde, auch digital zugänglich sein wird.»

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Eine Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in der Radio und Fernsehen nicht vorkommen, wäre, als würde jemand versuchen, über das 21. Jahrhundert zu schreiben, ohne Social Media zu erwähnen.»
Brecht Declercq

Kein Medium hat im 20. Jahrhundert einen solchen gesellschaftlichen Einfluss gehabt wie Radio und Fernsehen. «Eine Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in der Radio und Fernsehen nicht vorkommen, ist nicht möglich», sagt Brecht Declercq. «Das ist, als würde jemand versuchen, über das 21. Jahrhundert zu schreiben, ohne Social Media zu erwähnen.»

Egal ob pure Nostalgie oder als Forschungsgrundlage: Rundfunk ist in jeder Hinsicht identitätsstiftend. Das gilt nicht nur für die Schweiz. 2016 zeigte eine Studie in England, dass das Schauen von BBC-Archivmaterial erfolgreich in Therapien mit Alzheimerpatient:innen eingesetzt werden kann. «Wir haben gelernt, dass die Verwendung von Archivmaterial zum Wecken von Erinnerungen und Reminiszenzen wirklich funktioniert», heisst es auf der Webseite des Rundfunkbetreibers.

«Gerade das Banale hat für mich einen besonderen Denkmalwert», sagt Brecht Declercq. «Ich als Archivar kann nicht ahnen, wofür die Archivbestände einmal gut sind, das überlasse ich der Kreativität der Forschenden.» Declercqs Lieblingsbeispiel ist ein klimatologisches Forschungsprojekt von 2018 der Universität Gent in Belgien. Um die Auswirkungen des Klimawandels auf Bäume zu untersuchen, nutzte das Forschungsteam die Archive des flämischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks VRT und sah sich stundenlange Aufzeichnungen der Flandern-Rundfahrt an, einem grossen Fahrradrennen in den flämischen Ardennen. Die Flandern-Rundfahrt wird seit 1973 im Fernsehen übertragen. Das hatte für das Forschungsprojekt den Vorteil der Langjährigkeit bei einer relativ gleichbleibenden geographischen Situation.

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Wir werden in 100 Jahren keine Flut von Dokumenten haben. Alle privaten Fotos und Filme werden mit dem Handy weggeworfen, weil die Schnittstellen fehlen.»
Peter Fasnacht
Die Archive der Zukunft

Die Menge an Video-, Audio- und Fotomaterial, die seit dem Aufkommen der Smartphones generiert wird, überschreitet alles, was im 20. Jahrhundert produziert wurde. Da drängen sich verschiedene Fragen auf: Wie werden die Menschen in 100 Jahren mit dieser Flut an Dokumenten umgehen? Welche der 24’000 Dateien auf meinem iPhone werden für die Generationen der Zukunft noch einen kulturpolitischen Wert haben?

«Die wenigsten Sachen der 2000er-Jahre werden wir in 50 Jahren noch zu sehen bekommen», sagt David Landolf. «Schon jetzt ist es ein Glücksspiel, ob man ein Video, das jemand in den 1980er-Jahren privat aufgenommen hat, noch abspielen kann.»

Bis in die 80er-Jahre ist das audiovisuelle Material gut erhalten. Von da an hat sich die Technik aber rasch und fortlaufend verändert. Formate lösen einander im Zehnjahresrhythmus ab, Datenträger gehen schneller kaputt, Ersatzteile werden keine hergestellt. Wir spüren die Folgen dieser Schnelllebigkeit. Apple produziert seit 2016 keine Laptops mit CD-ROM-Laufwerk mehr und kaum jemand hat noch ein VHS-Gerät zu Hause. Von Disketten ganz zu schweigen. Dabei sind alte Originalträger nachhaltiger zu archivieren als ihre digitalisierten Kopien. Im Kühlraum nehmen sie keinen Schaden und die Formate bleiben immer gleich. Unter der Lupe kann man bei einem Film erkennen, was drauf ist. In digitaler Form geht das nicht mehr.

Wie also pflegen wir die Archive der Zukunft? Für Peter Fasnacht und David Landolf besteht die Aufgabe der Archive weniger in der Entscheidung, was die Menschen der Zukunft interessieren könnte, als viel mehr im Bewahren von Zeitdokumenten. «Wir werden in 100 Jahren keine Flut von Dokumenten haben», sagt Fasnacht. «Wenn wir Glück haben, gibt es dann noch ein paar wenige Aufnahmen vom Fernsehen. Aber alle privaten Fotos und Filme werden mit dem Handy weggeworfen, weil die Schnittstellen fehlen.»

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Alles ist besser, als das Material im Archiv verstauben zu lassen. Denn dann ist es wirklich tot.»
David Landolf

Durch die sozialen Medien haben audiovisuelle Archive in den letzten Jahren ungemein an Aufmerksamkeit gewonnen. SRF kuratiert regelmässig «Archivperlen» , eine Art Best-of des alten Materials. Charles Clerc und sein Kondom sind dabei ein Evergreen. Ebenfalls gibt es öffentliche Archiv-Events: So führte CORSI, eine Regionalgesellschaft der RSI, zuletzt im August in Maloja eine solche Veranstaltung durch. Zu den Events werden jeweils Gäste eingeladen, die über die Aktualität eines ausgewählten Themas reden, während Bild- und Videoausstellungen die Vergangenheit wieder zum Leben erwecken. Das «Lichtspiel» bietet jeden Sonntag einen Kinoabend im Archiv in Bern an. Dafür werden Kurzfilme aus dem Kühlraum geholt und in einen zeitgemässen Projektor gelegt. Es ist ein Balanceakt, denn mit jedem Gebrauch nutzen sich die alten Filmrollen ab. «Aber alles», sagt David Landolf, «ist besser, als das Material im Archiv verstauben zu lassen. Denn dann ist es wirklich tot.»

Noemi Harnickell, September 2023

 

Lesen Sie im Artikel «Do it yourself: Im Gedächtnis der Schweiz stöbern», wie Sie die SRG-Archive spielerisch selbst entdecken können.

Kommentar

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