Kinder an die Kameras: Die Minisguard

Bei der Sendung Minisguard von RTR führen Schüler:innen Regie: Sie setzen Themen, recherchieren, filmen und schneiden. Dabei lernen sie auch, Informationen zu hinterfragen und verantwortungsbewusst zu teilen.

Das Equipment wirkt aussergewöhnlich gross in den Armen der beiden jungen Kameramänner. Einer von ihnen trägt die Kamera, der andere das Stativ, ganz ausser Atem eilen sie ihrer Kollegin hinterher. Die ist längst schon um die nächste Ecke verschwunden.

Frieda wartet beim Dorfplatz auf Livio und Matthias, eine Hand hat sie lässig in die Hüfte gestützt. Kaum haben die beiden sie erreicht, keuchend und erschöpft, legt sie auch schon los. Die Kamera soll hierhin, das Stativ auf genau diese Höhe – sie macht es mit der Hand vor. Sie selbst werde von dort vorne ins Bild laufen – sie deutet auf die Gasse hinter dem kleinen Volg-Laden. Für ein paar Minuten diskutieren die drei über Friedas Vorschläge und machen es am Ende doch genau so, wie sie gesagt hat: Frieda kommt von hinter dem Haus ins Bild gerannt, Matthias folgt ihr mit der Kamera.

Zwei Takes dauert das Ganze, dann ist die Szene auch schon im Kasten.

Frieda, Livio und Matthias

Infotainment-Sendung für Kinder in der rätoromanischen Schweiz

Frieda wird eines Tages als Reporterin arbeiten. Oder als Moderatorin. Vielleicht – sicher ist sie sich noch nicht. Aber in dieser frühen Oktoberwoche lernt sie, was ein solcher Beruf für sie bereithalten könnte. Frieda, Livio und Matthias besuchen die fünfte und sechste Klasse der Primarschule in Sent im Unterengadin. Ihre Schulklasse macht dieses Jahr bei der «Minisguard sin visita» («Minisguard auf Besuch») mit, einem Projekt der Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR).

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Frieda

Zweimal im Jahr reist das Produktionsteam der Minisguard zu Schulen im rätoromanischen Graubünden und produziert während fünf Tagen zusammen mit einer Klasse eine Sendung. Die Kinder übernehmen alles: Recherche, Drehbuch, Regie, Moderation und Schnitt. «Die Kinder treffen sämtliche Entscheidungen selbst», sagt RTR-Redakteurin Ronja Muoth. «Wir unterstützen sie lediglich dabei.»

Auf der Suche nach spannenden Geschichten

Bevor Mirco Manetsch und sein Team mit der Produktion an der Schule beginnen, führen sie eine Themenkonferenz mit der Schulklasse durch. Gemeinsam besprechen sie erste Ideen für das Sendungskonzept. Welche Themen interessieren die Kinder? Und wie kann man sie umsetzen? Die Schüler:innen lernen dabei: Zu jedem Thema muss man eine spannende Geschichte erzählen können. Und dieser versucht Mirco Manetsch bei den ersten Gesprächen auf die Spur zu kommen.

«Einmal», erinnert er sich, «war ich in einer Klasse, in der die Kinder total begeistert vom lokalen Erntedankfest waren. Aus Reportersicht ist das ein eher langweiliges Thema – was will man da schon gross berichten?» Manetsch lacht. «Als ich aber nachhakte, stellte sich heraus, dass sie sich eigentlich für die grossen Traktoren und Pferde interessierten!»

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Im Klassenzimmer

Auch an der Primarschule Sent war die Themenfindung ein Prozess. Die Schüler (und Schülerin – Frieda ist das einzige Mädchen in der Klasse) legten sich schliesslich auf das Thema Entscheidungen fest. Mirco Manetsch hatte eigentlich etwas zu den bevorstehenden Stände- und Nationalratswahlen machen wollen, aber den Kindern war das nicht aufregend genug. Das Thema Entscheidungen war ein Kompromiss, der thematisch immer noch nahe bei den Wahlen liegt und einen Wert vermittelt. «Die Kinder sollen lernen, wie man ein Konzept erstellt und was eine gute Recherche ist», betont Manetsch.

Bevor die Produktionswoche mit RTR beginnt, müssen die Schüler:innen bereits Fakten recherchieren,  Interviewpartner:innen anfragen, Gespräche vorbereiten und das Drehbuch schreiben. Sie werden in jedem Schritt unterstützt, sollen aber lernen, für eine Sache öffentlich hinzustehen. Das heisst etwa, dass sie die Protagonist:innen für ihre Geschichten selber anfragen. Es heisst auch, dass sie bei der offiziellen Premiere ihrer Filme vor Publikum die Moderation selbst gestalten und leiten.

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Im Klassenzimmer

«Leute, ihr müsst Geduld haben!»

Die Häuser von Sent sind an diesem Dienstagnachmittag anfangs Oktober ins grosszügige Licht der noch immer warmen Sonne getaucht. Durch die Fenster der Schule blickt man auf die Gipfel der Sesvennagruppe, die besonders scharf in den Himmel ragen.

Aber weder die spätsommerlichen Temperaturen noch das sonnige Wetter locken die neun Kinder aus den Räumen ihrer Schule. Mirco Manetsch sitzt mit einer ungeduldigen Frieda, einem ungeduldigen Matthias und einem ungeduldigen Livio vor einem Computerbildschirm und spult durch das Filmmaterial. Die drei wollen am liebsten gleichzeitig schneiden, Musik auswählen und Special Effects einfügen, immer schon drei Schritte voraus in dem, was Manetsch ihnen zeigen möchte. Der verdreht theatralisch die Augen und sagt: «Leute, ihr müsst Geduld haben!»

«Aber–»

Manetsch fällt Matthias ins Wort. «Ich habe früher beim Fernsehen geschnitten. Das war mein Job. Und wenn mich jemand fünfmal das Gleiche gefragt hat, dann habe ich gesagt: Los, geh Kaffee trinken!»

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Mirco Manetsch und die Schulkinder.

Geduld ist die erste Regel bei der Fernsehproduktion – und am schwierigsten zu verinnerlichen. «Die Kinder lernen, dass es sich lohnt, Anstrengendes auszuhalten», meint Mirco Manetsch. Dass es manchmal langweilig ist, repetitiv oder mühsam – das Erfolgsgefühl am Ende es aber wert.

Ist ihm der erste Take nicht gut genug, besteht Manetsch auch mal darauf, das Ganze noch einmal zu filmen. Und noch einmal. «Es nervt sie ganz schön, von vorne beginnen zu müssen», sagt Manetsch. «Aber ich weiss, dass sie es besser können. Und am Ende ist das Erfolgserlebnis dafür umso grösser.»

Dass nicht alle Kinder dafür gemacht sind, erkennt auch Mirco Manetsch. Er treibt ein Kind darum nur an, wenn er sicher ist, dass es davon profitiert. Etwa bei Frieda. «Sie konnte ich stark fordern. Sie hat gespürt, dass ich ihr Potenzial erkannt habe und ans Licht bringen wollte.» Dafür habe sie sich am Ende sogar bedankt.

Entscheidungen über Entscheidungen

Im Film von Frieda, Matthias und Livio wird die Protagonistin Frieda immer wieder vor schwierige Entscheidungen gestellt. Hilft sie einem Touristen, der sich im Dorf verlaufen hat und kommt dafür zu spät zur Schule? Oder nimmt sie einen Umweg und wird dafür von einem schlechten Gewissen geplagt? Das sei eine klassische Entscheidung, erklärt ihr Livio, der Entscheidungsgeist, der plötzlich in einer Rauchwolke vor ihr auftaucht.

Als Frieda daraufhin an einer Bäckerei vorbeikommt, fällt ihr ein, dass sie ihr Pausenbrot vergessen hat. Soll sie eines kaufen gehen? «Das ist eine finanzielle Entscheidung», erklärt ihr der Entscheidungsgeist, der wie aus dem Nichts plötzlich wieder vor ihr schwebt. «Es gibt aber auch viele andere Entscheidungsarten. Zum Beispiel Entscheidungen aus dem Alltag: Was soll ich anziehen? Oder soziale Entscheidungen: Mit wem soll ich mein Pausenbrot teilen? Oder soll ich es lieber allein essen?» Der freundliche Geist erklärt ihr auch, dass Menschen zwischen 20’000 und 35’000 Entscheidungen am Tag treffen. Alle diese Fakten musste das Trio genau recherchieren. Erst als sie verlässliche Quellen vorlegen konnten, war Mirco Manetsch zufrieden und winkte das Skript durch.

«Die Schüler:innen lernen in dieser Woche, dass es beim Fernsehen auf alle möglichen Skills und Kompetenzen ankommt», sagt Manetsch. Wenn er bei Projektbeginn die Gruppeneinteilung macht, achtet er darum darauf, die unterschiedlichen Fähigkeiten möglichst vielfältig zu kombinieren. «Beim Fernsehen macht jeder einzelne von uns nur einen winzigen Teil – aber ohne den könnte der ganze Beitrag nicht zustande kommen», sagt Manetsch. Ein Junge habe sich für die Produktion an sich nicht begeistern können, aber am Ende beim Aufräumen richtig angepackt. «Das ist ebenfalls ein Talent», lobt Manetsch. «Auch solche Leute braucht’s in einem Team.»

«
Es ist wichtig, dass die Welt der Kinder aus der romanischen Sprachregion medial abgebildet wird.»
Flurin Parolini, Klassenlehrer
Minisguard fördert Rätoromanisch – und den Nachwuchs

Die Aula der Primarschule Sent ist zum Fernsehstudio geworden. Links in der Ecke hängt ein schwerer, schwarzer Vorhang. Davor sitzt RTR-Redakteur Dominik Hardegger, die Kamera auf ein undefinierbares Lego-Modell gerichtet. Von links und rechts schieben zwei Schüler nach und nach Lego-Mobiliar ins Bild, ein Schreibtisch, ein Computer, ein Stuhl. Ein dritter Junge bastelt aus Legosteinen das Wort «MINISGUARD». Das Ganze wird am Ende zum Intro für die Sendung geschnitten.

Die Aula der Primarschule Sent ist zum Fernsehstudio geworden.

«Ich habe sofort zugesagt, als die Anfrage von RTR kam», sagt Klassenlehrer Flurin Parolini. Neben der Technik und den Medienkompetenzen, welche die Kinder während der Projektwoche erlernen, sieht er in der Minisguard auch eine Chance, das Rätoromanisch zu fördern. «Die Kinder lernen andere Idiome kennen und sprechen die ganze Zeit Rätoromanisch», sagt er. «Das ist ein Riesengewinn!» Viele Schüler:innen würden die Sprache zu Hause nicht sprechen und seien sich ihrer Bedeutung nicht bewusst. «Es ist wichtig, dass die Welt der Kinder aus der romanischen Sprachregion medial abgebildet wird», sagt er. «Eine Sprache lebt nur, wenn sie auch angewandt wird.»

Mit der Minisguard sichert sich die RTR auch den Nachwuchs auf der Redaktion. «Wir schaffen Perspektiven», sagt Cutter Sandro Spreiter. «Ich kenne junge Leute, bei denen die RTR vor zehn Jahren an der Schule zu Besuch war und die jetzt bei uns Praktika machen. Die Minisguard ist Nachwuchsförderung und Publikumsbindung in einem.»

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Flurin Parolini, Klassenlehrer

Ketchup drauf und Cut!

Für Produzent Mirco Manetsch leistet Minisguard einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. «Der Public Value der Minisguard ist sehr vielfältig.» Er zählt die Kompetenzen auf, die den Schüler:innen vermittelt werden: Medienkompetenz, Anwendungskompetenz, Reflexionskompetenz, Partizipationskompetenz, Softkompetenz. Die Kinder lernen ausserdem den Umgang mit der Technik, wie man Quellenangaben macht und Fake News identifiziert und widerlegt. «Junge Menschen müssen wissen, wie man Medien verantwortungsvoll interpretiert und überprüft», betont Manetsch.

Das Führen der Kamera hat Matthias am besten gefallen. Vielleicht werde er wirklich einmal Filmemacher, sagt er, während er skeptisch über Mirco Manetschs Schulter auf den Bildschirm blickt. Die Szene mit dem Geist lässt sich nicht ganz sauber schneiden. Ein Fauxpas beim Filmen vom Vortag. Nun reicht die Zeit nicht mehr, die Szene nochmals zu filmen.

«Keine Sorge», tröstet ihn Mirco Manetsch, «wenn uns etwas nicht schmeckt, hauen wir einfach Ketchup drauf!»

Impressionen

Matthias, Frieda und Livio schauen ihn fragend an. Manetsch erklärt: «Ketchup heisst beim Schneiden Musik. Schaut mal!» Er öffnet Spotify auf seinem Handy und spielt ein Lied ab, während auf dem Bildschirm Livio als Geist vor Frieda auftaucht. Psychedelic Rock. Matthias verzieht das Gesicht. «Können wir nicht wenigstens ein anderes Lied nehmen?», fragt er unzufrieden.

«Ihr müsst Geduld haben!», ruft Mirco zum wiederholten Mal an diesem Tag. «Ausserdem solltet ihr eh nie Musik verwenden, die ihr mögt – ihr werdet euch dasselbe Stück beim Schneiden so oft anhören müssen, dass es euch am Ende ganz verleidet. Fragt euch: Was fühle ich dabei? Und nicht: Was denke ich dabei?»

«
Ich möchte ihnen die Chance geben, sich auszudrücken.»
Mirco Manetsch, Produzent von Minisguard

Es sind ganz schön viele Lektionen, die den Kindern in diesen fünf Tagen vor den Herbstferien vermittelt werden. Aber den konzentrierten Gesichtern nach zu urteilen, haben die Schüler:innen sie «by doing» schon längst verinnerlicht. «Ich möchte ihnen die Chance geben, sich auszudrücken», sagt Manetsch. «Und ich möchte, dass sie verstehen, dass ihre Stimme relevant ist. Dass sie etwas bewirken können.»

Noemi Harnickell, Februar 2024

Zum Minisguard-Beitrag

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