Vereine: Wie sie verbinden – und warum sie nicht idealisiert werden dürfen
SRF widmet sich im Juni eine Woche lang den Vereinen in der Schweiz. Etwa dem LGBTQ-Jodlerchor «Männertreu» aus der Ostschweiz und der Fifa, dem mutmasslich lukrativsten Verein des Landes. Vereine spielen eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, bergen laut Historiker:innen aber auch Gefahren.
«Mir hei e Verein, i ghöre derzue.» Nur: So ganz dazu gehört er eben doch nicht, der Berner Chanson-Sänger Mani Matter. An manchen Tagen zweifelt er, ob er sich mit den Inhalten seines Vereins wirklich identifizieren kann. An anderen Tagen wiederum ist er stolz darauf, dabei zu sein. Mani Matter bringt in 83 Sekunden die Ambivalenz des Schweizer Vereinswesen auf den Punkt.
SRF widmet dem Thema mit dem Schwerpunkt «Vereinswelten» eine ganze Woche: Vom 2. bis 9. Juni berichtet SRF im Fernsehen, Radio und online über verschiedene Aspekte des Schweizer Vereinslebens.
In der Schweiz gibt es rund 100’000 Vereine, sie sind Teil der Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz . Seit über 300 Jahren prägen Vereine die Kulturlandschaft, vertreten Interessensgemeinschaften und erhalten Traditionen aufrecht. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt. 75 Prozent der in der Schweiz lebenden Menschen gehören Vereinen oder gemeinnützigen Organisationen an, 61 Prozent engagieren sich aktiv. Allein in Sportvereinen leisten Freiwillige zusammengezählt rund 30’000 Stunden im Jahr.
Doch Vereine stehen nicht nur für Gemeinschaft, Demokratie und Kultur – sie stehen auch für Stillstand und Konservatismus. Um diese Spannbreite zu verstehen, reichen 83 Sekunden natürlich nicht aus. Wie kommen diese Gegensätze zusammen? Und welche Rolle spielt die SRG in dem Ganzen?
Berichte über Lebenswelten
«Ohne die Vereine würde die Schweiz nicht funktionieren, wie sie es tut», sagt Annette Scharnberg. Sie ist gemeinsam mit Oliver Meier für die inhaltliche Leitung der Themenwoche «Vereinswelten» verantwortlich. «Indem SRF als Teil der SRG ausführlich über Vereinswesen und Traditionen berichtet, entsteht ein grosser gesellschaftlicher Mehrwert», sagt Scharnberg.
Vereine sind nicht nur nahbar, sondern haben auch eine wichtige wirtschaftliche Komponente: 30’000 Vereine sind nicht gemeinnütziger Natur, sondern mit Unternehmen verknüpft. Sie fördern Innovationen und stärken die Wettbewerbsfähigkeit des Landes.
Die Bandella Ticinese
Wenn in Tessiner Dörfern jemand heiratet, jemand beerdigt wird oder der Karneval durch die Strassen zieht, dann darf eines nicht fehlen: die Bandella Ticinese.
Die Bandella ist die kleine Schwester der Banda, der grossen Blasmusik. Bei der Bandella wird oft nicht nach Noten, sondern nach Gehör gespielt, die Leute tanzen dazu. «Es ist nicht ganz einfach, die Bandella einer Art der Volksmusik zuzuordnen», sagt Emanuele Delucchi, Mitgründer der Bandella-Gruppe «Chilometro-0». «Was den Ländler oder den Schlager ausmacht, ist sehr genau definiert. In der Bandella haben die Stücke nicht einmal richtige Namen. Sie heissen etwa ‹Walzer von Beppo›, angelehnt an jemanden, der zuletzt sowas in der Art gespielt hat.»
Emanuele Delucchi ist in Arogno mit der Bandella-Tradition aufgewachsen. Sein Urgrossvater, sein Grossonkel, jeder spielte in der Bandella. «Das erste Mal, dass ich mitspielen durfte«, erinnert sich Delucchi, «war, als der alte Pfarrer pensioniert und der neue begrüsst wurde.»
Musik schafft ein historisches Gedächtnis
Seine Heimat Arogno habe durch die Bandella ein besonderes historisches Gedächtnis bewahrt. «So viele Melodien und Tänze wurden nie aufgeschrieben, sondern einfach durch die Musik weitergegeben.»
Weil nicht nur die Stücke spontan entstehen, sondern auch die Zusammensetzung der Gruppen, gibt es nur wenige Aufnahmen von Bandella-Tänzen. «Es gibt natürlich Schallplatten, aber die haben solche Titel wie ‹Grüsse aus dem schönen Tessin›.» Delucchi lacht. «Die SRG spielt in der Förderung und im Erhalt der Bandella eine unverzichtbare Rolle», betont er. Denn sie nimmt eine wichtige Archivfunktion ein, zeichnet Konzerte auf und macht Studioaufnahmen. Dadurch bleibt Musik, die sonst kaum aufgeschrieben wird, für die Nachwelt erhalten.
«Es ist ein Klischee», sagt Emanuele Delucchi, «aber Musik verbindet. Und je spontaner man zusammen musiziert, desto stärker ist die Verbindung zueinander.» Er erinnert sich, dass er einmal mit grossem Heimweh in einem amerikanischen Flughafenhotel sass. Auf einmal entdeckte er in einer Tasche eine CD mit einer Aufnahme, die RSI von seiner Band wenige Tage zuvor bei einem Auftritt in Bellinzona gemacht hatte. «Ich brauchte mir nur zwei Stücke anzuhören und schon fühlte ich mich viel besser!»
Für Emanuele Delucchi liegt der Wert der Bandella vor allem in der Sorgfalt, mit der sie gespielt wird. «Wir haben den Anspruch, nicht immer nur die gleichen drei Melodien zu spielen», erklärt er. «Wir versuchen, einen Wechsel von Tonarten einzubauen und Kontrapunkte zu setzen. Auch wenn mehrheitlich improvisiert wird, soll es ja nicht nur Krach machen. Diese Wertschätzung der Bandella-Musik, diese Pflege eines immateriellen Guts – das ist ein Wert für sich.»
Segelregatten auf dem Genfersee
Geht man die Liste der lebendigen Traditionen durch, merkt man rasch, dass sie sich nicht auf Schwingfest, Alpabzug und Teffli-Rally reduzieren lassen. Es gibt nicht die Schweiz, viel mehr besteht die Kultur aus kleinen, bunten Patchwork-Teilen, aus denen das ganze Grosse erst entsteht. Was jedoch fast alle gemeinsam haben, ist die Vorliebe für eine gute Feier.
Jeden Sommer verwandelt sich der Hafen von Genf für ein Wochenende in ein Spektakel, das sich genauso gut in Sydney abspielen könnte. Mehrere hundert Segelboote tummeln sich im Wasser, manche von ihnen so gross und pompös, dass sie nur mit dem Helikopter dorthin gelangen können. Es ist die Bol d’Or Mirabaud, die weltweit grösste Segelboot-Regatta auf einem Binnengewässer.
Das Rennen verläuft vom Westende des Sees bei Genf zum Ostende bei Le Bouveret und zurück über eine Strecke von etwa 125 Kilometer. Die Bol d’Or Mirabaud wurde erstmals am 22. Juli 1939 mit 26 Teilnehmern veranstaltet. Heute nehmen fast 600 Segelboote teil.
Yorick Klipfel ist seit 20 Jahren Vorsitzender des ACVL, der «Association des clubs de voile lémaniques». Der Verein umfasst alle Schweizer Segelclubs am Genfersee. Der Lac Léman habe eine besondere Bedeutung für die Regatten, findet er. «Man kann das sportliche Ereignis von heute nicht von dem trennen, was segeln einmal war: Entdeckung. Handel. Kolonialismus. Krieg.» Segelboote brachten einst Güter über den See von Frankreich in die Schweiz, Kriegsschiffe legten in den Häfen an. Im Laufe der Geschichte wurden Segelboote immer wendiger und schneller. Handel und Krieg sind im Grunde ebenso Wettkämpfe, in denen es um Geschwindigkeit geht, wie eine Regatta. «Ein Boot, das sich schneller dreht, kann besser Kanonen auf die Gegner schiessen», erklärt Klipfel. «Und ein Handelsschiff, das schneller im Hafen ankommt, erhält für seine Ware mehr Geld.»
Lebensschule auf dem Wasser
Am Tag des Rennens ist die Luft erfüllt von Rufen, von Musik, vom Rauschen von Wind und Wellen. Yorick Klipfel nennt es «den Klang der Leidenschaft.» Aber das Rennen ist nur ein Teil der Bol d’Or Mirabaud: Am Abend treffen sich die Segler:innen in den Bars und streiten über Foul Play und Regeln. «Regatten haben ein sehr kompliziertes Regelwerk», erklärt Klipfel. «Das führt zu vielen Diskussionen, die bis vor das Regatta-Tribunal gezogen werden können.» Besonders schlimm sei, wenn zwei Boote sich berührten, das müsse unbedingt vermieden werden. «Die meisten Yachten sind wie Eierschalen. Sehr leicht – und auch sehr leicht zu versenken!»
Das besondere Merkmal der Genfersee-Regatten sei vor allem die moderne Technik der Boote. Andere Regatten setzen etwa auf historische Bauten, die dafür weniger schnell sind. «Die Bol D’Or ist auch ein Ego-Rennen», sagt Klipfel lachend. «Es geht um Show-Off. Ich nenne es manchmal auch ein Testicle-Race!»
Die SRG spielt eine massgebliche Rolle für Regatten wie die Bol d’Or Mirabaud. Die Namen der Sponsoren sind gross auf den gehissten Segeln zu sehen und gelangen durch die landesweite Übertragung in Fernsehen und Internet in die Wohnungen der ganzen Schweiz. «Die Sponsoren profitieren von der Berichterstattung», erklärt Klipfel, «da die Werbezeit im Fernsehen ein Vermögen kostet.»
Im Gegensatz zu anderen Vereinen leiden die Segelclubs rund um den Genfersee nicht an Mitgliedermangel. Viele Jugendliche sind engagierte Segler:innen und lernen auf dem Wasser Selbständigkeit. «Die Kids lernen, ihr Schicksal fernab von Mutter und Vater zu meistern», sagt Klipfel. «Wenn du auf dich allein gestellt bist mitten auf dem weiten Ozean, dann macht dich das automatisch reifer.»
Rituelle Praktiken verbinden mehr als Traditionen
Wenn man so möchte, könnte man die Vereine als Mikrokosmos der Schweizerischen Basisdemokratie sehen. Sie haben demokratische Strukturen, die Mitgliederversammlung ist ihr höchstes Organ. Entscheidungen werden oft durch Kompromisse gefällt.
Dieser Ansicht widerspricht der Berner Historiker Daniel Schläppi jedoch scharf: «Im Verein wird Ungleichheit inszeniert», sagt er. «Es gibt Hierarchien, nicht jeder ist gleichberechtigt.» Ein Gefühl von Gemeinschaft komme durch rituelle Praktiken auf, die natürlich entstehen. Ein Beispiel dafür ist die Fankurve im Berner Wankdorf-Stadion, die auch auf der Liste der lebendigen Traditionen verzeichnet ist: «Die Fans sind nicht als Verein organisiert und mögen im Alltag nichts miteinander zu tun haben. Aber in der Kurve verstehen sie sich als Kollektiv. Sie haben gemeinsame Gesänge und gemeinsame Choreos. Das verbindet.»
Schläppi unterscheidet Traditionen von solchen rituellen Praktiken. «Traditionen dienen dazu, ein soziales Gefüge zu inszenieren.» Er warnt davor, sie zu stark zu idealisieren. «Rituale sind etwas Eingespieltes», sagt er. «Sie haben eine Konstanz und eine Verlässlichkeit und dadurch einen starken Wert für den Zusammenhalt. Sie sind eine Ressource, deren Wert sich erst in der Praktik entfaltet.»
Vereine als Schule der Demokratie?
Im Gegensatz dazu wurden Traditionen, so Schläppi, künstlich erschaffen, um ein Gefühl der Gemeinschaft zu inszenieren. Das erlaube es Politiker:innen, sie zu instrumentalisieren und eine «gemeinsame Schweiz» zu kreieren. Schon allein durch das föderalistische System gebe es diese inszenierte Schweiz aber gar nicht.
Gegenüber Swissinfo.ch betonte auch die Basler Historikerin Beatrice Schumacher, Vereine dürften als solche nicht idealisiert werden: «Vereine dienten oft auch der Durchsetzung der Interessen bestimmter Gruppen.» Sie seien durch Männer aus dem Bürgertum geprägt, während Frauen und die Arbeiterklasse lange Zeit keinen Zugang zu ihnen fanden. Zudem hätten einfache Mitglieder in Vereinen manchmal nicht sehr viel zu sagen, weil der Vorstand alles bestimme. «Es stellt sich die Frage, ob Genossenschaften nicht demokratischer sind.»
Es ist ein Bisschen, wie Mani Matter in der zweitletzten Strophe seines Vereinslieds singt: «So ghör i derzue, ghöre glych nid derzue / Und stande derzue, stande glych nid derzue / Bi mängisch stolz und ha mängisch gnue / Und das ghört derzue.» – «Bin manchmal stolz und habe manchmal genug», vielleicht fasst das ganz simpel das Gefühl zusammen, was es bedeutet, Bürger oder Bürgerin eines Landes zu sein.
«Uns geht es nicht darum, das Vereinsleben hochleben zu lassen», erklärt Annette Scharnberg. Vielmehr wolle die SRF-Themenwoche über die verschiedenen Aspekte der Vereine berichten. Es sei von grosser Bedeutung, diese mit einem journalistisch-kritischen Blick darzustellen. «Das sind Schweizer Lebenswelten», sagt sie. «Mit allen ihren Facetten, den schönen und den schwierigen.»
Und das gehört dazu.
Noemi Harnickell, Mai 2024
Besten Dank für diesen interessanten Einblick in die vielfältige Schweizer Vereinskultur.