Wie RTR die rätoromanische Musik fördert
Musik ist eine hervorragende Botschafterin, um eine Kultur zu spiegeln und nach aussen zu tragen. Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) nimmt diesen Auftrag ernst: Indem sie gezielt rätoromanische Musikerinnen und Musiker fördert.
Rieischs sa mantignan.
Rieischs am retignan.
Rieischs am sustignan.«Wurzeln bewahren sich.
Wurzeln hemmen mich.
Wurzeln geben mir Halt.»
(Dominique Caglia)
Rätoromanische Sprachfetzen hallen an den Wänden der Église Française im Berner Stadtzentrum wider. Sie mischen sich im Stimmengewirr mit deutschen, französischen und italienischen Gesprächen. Es ist ein Sonntagnachmittag im März 2023, die Plätze sind belegt, das Publikum ist vielsprachig und in allen Altersgruppen vertreten.
Die Bündnerinnen und Bündner und ihre Wurzeln in den Tälern ihrer Heimat. Darum geht es in der rätoromanischen Musik immer wieder. So auch im Chorprojekt «Rieischs» von Viril Surses, bei dem unter anderem Maurus Dosch, Mitarbeiter der SRG-Generaldirektion, Flavio Bundi, Chefredaktor von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) und der Musiker Mario Pacchioli federführend mitgewirkt haben. Der Chor besteht aus 58 Männern zwischen 22 und 80 Jahren, fast alle sind sie in der Gemeinde Surses verwurzelt, und zwar von Bivio über Savognin bis Salouf. Von Bivio bis Salouf erstreckt sich eine Talspanne von rund 22 Kilometern, für die wöchentlichen Chorproben in der Heimat jedoch reisen viele der Chorsänger oft von viel weiter an: Maurus Dosch spricht von einer «bündnerischen Diaspora» in Zürich, Bern und der ganzen Schweiz.
Allein in Zürich leben laut einer Statistik von 2016 rund 1000 Rätoromaninnen und Rätoromanen. Menschen, die für Studium und Arbeit aus ihren Tälern weggezogen sind und zum Wochenende viele Stunden reisen, um in die Heimat zurückzukehren. «Wir gehen nach Hause zum Sterben», fasst Maurus Dosch die Bündner Mentalität zusammen. Doch das stimmt im Grunde nicht. Viel eher müsste man sagen: Die Menschen gehen nach Hause zum Leben. Und das immer wieder.
Insgesamt sprechen etwa 40‘000 Menschen die rätoromanische Sprache als Hauptsprache. Zusammen mit den Rätoromaninnen und Rätoromanen in der Diaspora sind es rund 60’000, ein knappes halbes Prozent der Schweizer Bevölkerung. Immer wieder wird der Sprache ihr Aussterben prognostiziert. Durch die Zerstückelung der Täler und ihrer Abgeschiedenheit haben sich im Laufe der Zeit eine Vielfalt an Dialekten sowie fünf rätoromanische Idiome entwickelt, was den Erhalt der Sprache erschwert. Die 1982 entwickelte Kunstsprache Rumantsch Grischun soll als eine Art Lingua Franca dienen und das Rätoromanisch standardisieren, ist aber in der Community selber hoch umstritten.
Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) sendet seit 1925 während 24 Stunden in rätoromanischer Sprache. Ein besonderer Fokus im Radio liegt dabei auf der Musik der Svizra rumantscha, oft sind es Eigenaufnahmen von RTR. Aber was regt Künstlerinnen und Künstler an, in einer Sprache zu singen, die nur 40’000 Menschen noch aktiv sprechen? Welche Rolle spielt die Musikberichterstattung für Chöre, Rapper und Sängerinnen?
Dies ist die Geschichte über die Sprache der Musik und des Radiosenders RTR, der mit fast allen Konventionen bricht.
Ein brasilianischer Secondo rappt auf Rätoromanisch
Gino Clavuot ist seit den frühen Morgenstunden wach, das Gespräch hat er für sieben Uhr angesetzt – er wäre auch schon eine halbe Stunde früher bereit gewesen. Clavuot arbeitet im Katastrophenmanagement für den Kanton Graubünden und pendelt dafür regelmässig zwischen seinem Wohnsitz in Zürich und Graubünden hin und her. Er brauche die Intensität, sagt er mit einem Schmunzeln in der Stimme. Clavuot ist Berufspendler in vielerlei Hinsicht: Er reist nicht nur zwischen den Kantonen, sondern auch zwischen den Jobs. Neben Impactanalysen und dem Organisieren von Taskforces macht Clavuot, besser bekannt unter seinem Künstlernamen SNOOK, Hip-Hop-Musik.
Als SNOOK singt Clavuot über Heimat und Identität, über das Verloren- und Wiedergefundenwerden. Clavuot wuchs in Tarasp im Unterengadin auf. Sein Vater ist das Kind einer brasilianischen Einwanderin und eines Schweizer Matrosen. Gino Clavuot ist in dritter Generation ein Nomade zwischen den Sprachen geblieben. Rätoromanisch, Deutsch, Portugiesisch. «Zuhause» bedeutet für Clavuot nicht die eine Sprache, sondern eine ganze Vielfalt, in der sich die eine nicht gegen die andere aufwiegen lässt. Das ist typisch für viele Rätoromaninnen und Rätoromanen.
«Wie stark mich das Engadin und Graubünden tatsächlich geprägt haben, wurde mir erst bewusst, als ich nach Zürich gezogen bin.» Ein Snowboardunfall war dann ein Schlüsselmoment in Clavuots Leben. Während er an die Krücken gefesselt war, habe er sich gefragt: «Warum probierst du es nicht selbst mit Rap-Musik?» Clavuot, damals im frühen Teenageralter, gründete mit vier Freunden am Gymnasium die Band Camillionerz. Die ersten Texte schrieb Clavuot noch auf Schweizerdeutsch, dann wechselte er ins Rätoromanische. «Ich denke und fühle Rätoromanisch», erklärt Clavuot den Wechsel. «Warum soll ich dann nicht auch in dieser Sprache rappen?»
Als SNOOK macht sich Clavuot bald auch ausserhalb von Graubünden einen Namen. «Das Ganze wuchs sehr organisch », sagt er. Eine bedeutende Rolle spielte dabei RTR. Seine Lieder seien im Radio RTR gespielt worden, später auch im Radio SRF Virus, SRF3 und «plötzlich» sei sogar Arte TV in Deutschland auf ihn aufmerksam geworden. «Ein Secondo, der sich für eine aussterbende Sprache einsetzt? Das finden die Leute cool!»
Dadurch unterscheide sich RTR von anderen Medienhäusern wie SRF oder der französischsprachigen RTS, sagt Maurus Dosch, Leiter Planung und Prozesse der SRG in Bern. «SRF hat ein grosses Publikum und muss musikalisch irgendwie alle abholen. RTR schafft sich Daseinsberechtigung nicht durch die Quote, sondern durch die Vielfalt ihres Angebots.»
Eine Besonderheit des RTR-Musikprogramms ist die Spannweite der Genres, die gespielt wird. Besonders deutlich zeigt dies die Sendung Gratulaziuns, ein einstündiges Wunschkonzert, das jeden Tag zur Mittagszeit ausgestrahlt wird und die meistgehörte Sendung von Radio RTR ist. Gewünscht werden natürlich die neuesten Hits und alte, bekannte Klassiker, einen festen Platz im Mainstream-Radio haben aber auch die sonst sehr selten gespielten Stücke wie Burst of Trumpets, March der Societad da musica da Sumvitg oder Abig Glogge des Jodelquartett Rosenberg, Praettigau & Kapelle Oberalp.
Ein Sender für den Chorgesang
La val sa derva
E colms m’ambratschan.
Mies cor, el batta ferm.«Das Tal öffnet sich
Und Berge umfassen mich.
Mein Herz, es schlägt fest.»
(Dominique Caglia)
«Kultur und insbesondere auch Musik sind die besten Botschafter überhaupt», sagt RTR-Chefredaktor Flavio Bundi. «Musik ist entscheidend für die Identität und darum für die RTR nicht nur ein Herzensprojekt, sondern eine zentrale Aufgabe für uns als Medienunternehmen.»
RTR begleitet Volksfeste und fördert Talente durch RTR-eigene Aufnahmen. Gerade für Chöre wie den Chor Viril Surses ist dies von grosser Bedeutung, da es für sie die einzige Möglichkeit ist, ihre Lieder professionell aufzunehmen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. «Chöre sind darauf angewiesen, dass sie ernstgenommen und ausgestrahlt werden», meint Dosch. «Darin hat RTR eine Leader-Funktion.»
Die Chortradition findet überall in der Schweiz tiefe Verwurzelung. Rund 2000 Chöre gibt es schweizweit, besonders aus katholisch geprägten Kantonen ging eine starke Chortradition hervor. Vergleichbar mit Turn- und Schützenvereinen tragen Chöre zur Gemeinschaftsbildung bei. 54 Chöre verzeichnet das Schweizer Chorverzeichnis für Graubünden, davon 14 allein in Chur. Bis heute stellen die regelmässigen Chorproben einen Lebensmittelpunkt für viele dar, nicht zuletzt auch für ausgewanderte Bünderinnen und Bündner. Auch Viril Surses wurde schon 1907 gegründet und hat zwei Weltkriege, Abwanderungswellen und Pandemien überstanden.
«Indem wir Chormusik ausstrahlen, schaffen wir einen anderen Zugang zum Kulturraum Graubünden», meint Flavio Bundi. «Unser Zielpublikum sind Rätoromaninnen und Rätoromanen – und zwar nicht nur jene, die noch im Kanton wohnen, sondern auch die ausgewanderten. Zürich ist schliesslich das grösste rätoromanische Dorf der Schweiz.» Durch das Spielen der Chormusik im Radio oder auf den digitalen Kanälen baut der Sender eine Brücke in den Rest der Schweiz.
«Rätoromanisch», sagt Bundi, «ist viel mehr als eine Sprache. Es ist eine Identität, ja fast eine Haltung. Wenn es der Schweiz, einem so reichen Land, nichts mehr bedeutet, Sorge zu seiner Vielfalt zu tragen, wird dieses Land nicht reicher, sondern ärmer.»
Bündner Heimweh
Rivo an tera estra
i’ catsch la mi’ rieisch,
a tschertga maladestra
dall’ava e la gleisch.«Auf fremdem Boden angelangt
treib’ ich meine Wurzeln,
auf ungeschickter Suche
nach Wasser und Licht.»
(Dominique Caglia)
«Ich denke eigentlich dauernd an die Berge», sagt Gino Clavuot. Heimweh ist für viele Bündner ein Grundbestandteil der Mentalität, was nicht zuletzt auf die lange Auswanderungsgeschichte des Kantons zurückzuführen ist. So machten sich die Graubündner Zuckerbäcker ab dem 15. Jahrhundert Namen in der Lombardei und in Venedig, eröffneten ihre Backstuben in über tausend europäischen, amerikanischen und afrikanischen Städten. Auch heute zwingt die Abgeschiedenheit der Dörfer und der zähe Arbeitsmarkt viele Menschen in die grösseren Städte ausserhalb der Kantonsgrenzen.
Ist Clavuot ein Pendler der Berufe und der Sprachen, so ist Graubünden ein Ort der Pendlerinnen, der Einwanderer, der Gastarbeiterinnen. Portugiesen bilden die grösste ausländische Bevölkerungsgruppe in Graubünden, 2015 waren es 9400 Menschen. Und während das Rätoromanische im Zuge der Abwanderung an Bedeutung zu verlieren scheint, gewinnt es diese Bedeutung mit der Zuwanderung wieder zurück. Ein Stück weit zumindest. Die Kinder der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, die vor allem in der Hotellerie arbeiten, reden Portugiesisch, Bosnisch, Deutsch – und, als gemeinsame Sprache, Rätoromanisch! Sprache hilft nicht nur, Identität in der Fremde zu bewahren, sondern auch, sie zu schaffen.
«Rätoromanisch hat viele Parallelen zu anderen romanischen Sprachen», sagt Clavuot. «Es klingt für mich weich, ähnlich wie das brasilianische Portugiesisch, fast gesungen. Je mehr wir unsere Sprache verlieren, desto mehr geht auch die Identität unserer Täler verloren. Ich finde, wir müssen Zeit und Energie in unsere authentische, ursprüngliche Sprache investieren und dieses kostbare Gut auch an die nächsten Generationen weitergeben.» Nicht nur Bündnerinnen und Bündner schätzen die rätoromanische Musik. Bundi erzählt, er bekomme auch Feedback von Hörerinnen und Hörern aus dem sogenannten Unterland. Jene, welche die Sprache zwar nicht verstehen, aber ihren Klang gern mögen.
Wie würde Bundi die rätoromanische Sprache jemandem erklären? Die Antwort kommt sofort: «Wie ein Lied mit einer Melodie in verschiedenen Klangfarben, geprägt von einer gewissen Melancholie. Rätoromanisch ist eine weiche, runde Sprache, aber die Bergspitzen sind manchmal auch in ihr zu hören. Es ist auch eine Sprache, die anecken kann.»
Rätoromanisches Spotify
Radiotelevisiun Svizra Rumantscha hat sich über die Jahre mit der konsequenten Förderung und Unterstützung der Bündner Musikszene einen Namen gemacht. «Wir berichten nicht nur darüber, wir sind auch Teil der Kultur», sagt Flavio Bundi.
Diesem Auftrag gerecht zu werden, ist oft eine Gratwanderung. RTR steht im Gegensatz zu SRF nur ein einziger Sender zur Verfügung, mit dem sich alle Hörer und Hörerinnen irgendwie identifizieren und abgeholt fühlen sollen. Und während RTR, wie inzwischen die meisten öffentlichen Medienhäuser, mit klassischem Radio vor allem von den älteren Generationen gehört wird, reicht es auch nicht, die Kanäle nur mit klassischer Musik und Chorgesang zu bespielen. «Der Zugang zur Musik muss den Leuten so einfach wie möglich gemacht werden», sagt Bundi. RTR hat darum die Plattform «PlayFestas» eingerichtet, eine Art «rätoromanisches Spotify», wie er erklärt. Die Plattform ist ein Archiv mit Aufnahmen von Konzerten und Gesangsfesten, die bis 1976 zurückreichen.
Wie wichtig solche Formate sind, weiss Gino Clavuot aus eigener Erfahrung. «Als Kind», erinnert er sich, «nahm ich die Hitparade im Radio mit dem Kassettenrekorder auf.» Längst haben Spotify und Co. das handwerkliche Aufnehmen abgelöst, aber auf das Radio verzichten möchte Clavuot trotzdem nicht. «Je mehr Leute meine Musik im Radio hören, desto grösser ist der Impact auf meine Streams und die Konzertanfragen.»
Waren es früher die klassischen Livekonzerte der grossen Chöre, investiert RTR heute noch gezielter in Gesangsfeste und macht nebst Audioaufnahmen auch Videoaufnahmen. RTR lädt die Chöre heute vermehrt an bestimmten Tagen in eine Aufnahmelokalität ein, zum Beispiel Mehrzweckhallen, Kirchen oder Studios. Im Halbstundenslot können die Musiker und Musikerinnen auftreten. Dafür erhalten sie professionelle Aufnahmen und RTR kann neue Chorliteratur aufnehmen. «Sammelaufnahmen» nennt Maurus Dosch dieses Vorgehen bemängelnd. Ihn als ehemaligen Präsidenten des Männerchors Viril Surses, schmerzen die Sparmassnahmen. Flavio Bundi aber meint: «RTR bietet heutzutage im Verhältnis viel mehr, etwa eine grössere Vielfalt im Bereich der audiovisuellen Musikproduktion und auch der Distribution, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Zudem haben wir aus Gründen der Fairness – vor allem gegenüber jungen Menschen – auch in neue Formate für moderne Musik investiert.»
«Der rätoromanischen Gemeinschaft etwas zurückgeben»
Surses sen nossa carta angal en stretg ma stretg dad ôr!
«Surses auf unserer Karte nur ein Strich, aber ein goldener!»
(Pader Alexander Lozza)
Neulich wurde Gino Clavuots Musik an der Humboldt-Universität in Berlin besprochen. Das Seminar behandelte kontemporäre rätoromanische Musik. «Es wird langsam völlig normal, dass Musik auch auf Rätoromanisch gemacht wird», sagt er. «Die Leute wollen sich mit ihrer Heimat verbinden.»
Vielleicht erklärt das, zumindest teilweise, das grosse Publikum in der Église Française in Bern für einen Chor aus der fernen Talschaft Surses. Als die letzten Töne verklingen, steht Bankreihe um Bankreihe auf, ein junger Mann pfeift laut, der Applaus hält minutenlang an.
«Wir wollen der rätoromanischen Gemeinschaft etwas zurückgeben», sagt Flavio Bundi. «Aber wir verstehen den Begriff ‹Förderung› auch in dem Sinn, als dass wir Musik nach aussen tragen. Durch das Mittel der Musik wird die Sprache konsumiert, besprochen, wahrgenommen und am Leben erhalten.»
Noemi Harnickell, Juni 2023