Warum Literaturkritik nicht an Relevanz verliert
Literaturkritik im Dialog mit den Werken – aber auch mit dem Publikum. Dieser Aufgabe geht der «Literaturclub» auf SRF seit 30 Jahren nach. Das Streiten über Literatur ist für die ehemalige Moderatorin Nicola Steiner ein wesentlicher Teil der Relevanz, die Literatur bis heute hat: «Es ist wichtig, zu verstehen, wie unterschiedlich Literatur gelesen werden kann.» Seit Herbst 2023 moderieren Laura de Weck und Jennifer Khakshouri die Sendung.
«Sicher sind Sie alle wegen der guten Literatur hier», sagt Nicola Steiner in den vollen Papiersaal in der Zürcher Sihlcity. Sie lacht. Ein Kichern geht durch den Raum, alle Augen sind auf den Mann neben Nicola Steiner gerichtet: Campino. Frontmann der Punkband Die Toten Hosen. Er ist an diesem Abend Gast im «Literaturclub» und wird mit Steiner und dem Kritikerteam Philipp Tingler und Elke Heidenreich über eine Auswahl von Büchern diskutieren.
Punk und Literatur auf einer Livebühne vereint. Lässt sich damit der «Literaturclub» beschreiben? In ihrem 33-jährigen Bestehen ist es der Sendung immer wieder gelungen, Gegensätze auf Augenhöhe zueinander zu bringen. Im «Literaturclub» wird das Lesen lebendig. Gäste und Kritikerinnen streiten leidenschaftlich auf der Bühne, fallen sich gegenseitig ins Wort, fassen sich beim Zitieren ihrer Lieblingstextstellen beherzt an die Brust. Das Zentrum jedes Dramas: ein Buch.
33 Jahre «Literaturclub» – ein Blick zurück
Der «Literaturclub» ist eine der ältesten Literatursendungen im deutschsprachigen Raum. Eine Nischensendung zur Primetime, die sich über all die Jahre unangefochten gehalten hat. Das Publikum ist dem Format treu geblieben. Wie kommt es, dass ausgerechnet eine Sendung über Bücher einen Platz im Primetime-Fernsehen bekommt? Und welche Bedeutung hat der «Literaturclub» eigentlich für den Buchhandel, Autorinnen und Autoren?
Ein Blick zurück. Als der Literaturclub im Jahr 1990 gegründet wird, findet die Literaturkritik im Rundfunk gerade eine neue Form. Die Formate verlieren an Feuilletoncharakter, zunehmend wird auf Dialog und Talkshow gesetzt, kontroverse Gespräche mit Autoren und Kritikerinnen, mit Experten und Laiinnen. Angefangen mit Charles Clerc wurde der «Literaturclub» bis heute von acht Moderatorinnen und Moderatoren begleitet, unter ihnen Grössen wie Elke Heidenreich (1993 bis 1994) und Daniel Cohn-Bendit (1994 bis 2003). 2012 hebt die Medienwoche hervor, der Erfolg der Sendung liege nicht zuletzt in der Auswahl der Bücher: «Der ‹Literaturclub› zeichnete sich vor allem darin aus, dem üblichen Feuilleton-Mainstream nicht blind hinterherzulaufen.» Kein Genre ist dem «Literaturclub» zu trivial, keines zu kontrovers oder zu anspruchsvoll. Kritiker, Gäste und Moderatorin müssen sich auf jedes der Bücher einlassen. «Jemand könnte auch mal Jojo Moyes vorschlagen», sagt Nicola Steiner, von 2014 bis 2023 Moderatorin des «Literaturclubs». «Der einzige Grund, weshalb wir diese Autorin noch nie besprochen haben, ist, weil die Kritikerinnen und Gäste ihre Bücher mit in die Sendung bringen und sich bis heute niemand für Moyes stark gemacht hat.»
Je kontroverser die Diskussion, desto besser der Verkauf
Campino schiebt ein dünnes Buch zwischen seinen Händen hin und her, in der Mitte markiert ein Notizzettel eine Textstelle. Noch nie sei ihm ein solches Buch untergekommen, sagt er. Es handelt sich um das 1937 im Original erschienene Gentleman über Bord von Herbert Clyde-Lewis, das dieses Jahr zum ersten Mal auf Deutsch übersetzt wurde.
Dass sich die Teilnehmenden über ein Buch einig sind, ist nicht oft der Fall. Werke werden regelrecht zerpflückt und in der gleichen Diskussion mal in den Himmel gelobt, mal zerrissen. Was das für den Buchhandel bedeutet, weiss Regine Frei. Sie ist Autorin und Buchhändlerin bei Stauffacher in Bern, der grössten Buchhandlung in der Schweiz. «Früher war es fast überlebenswichtig für uns, dass sich jemand den ‹Literaturclub› anschaute, sobald eine neue Folge erschien», sagt sie. «Denn damals wussten wir ja nicht im Voraus, welche Titel besprochen werden würden. Heute findet man sie im Vorfeld im Internet.»
Als Frei 1987 bei Stauffacher begann, schaffte sie sich ihren ersten eigenen Fernseher an – um das Literarische Quartett auf ZDF schauen zu können. «Die Leute standen am nächsten Tag mit Zetteln bei uns im Laden», erinnert sie sich. «Darauf hatten sie sich die besprochenen Bücher notiert. Es galt, first come, first serve. Wer nicht schnell genug war, musste auf die nächste Lieferung warten.»
Mit dem Internet hat sich vieles geändert. Die Leute bestellen Bücher im Internet, der Verkauf im Laden ist weniger bedeutend geworden. Frei sitzt am Küchentisch in ihrer Wohnung im Berner Länggass-Quartier. Die Wände sind mit deckenhohen Bücherregalen versehen, in einer Ecke beim Fenster schläft eine Katze.
Wenn die Bücherliste des «Literaturclubs» im Netz steht, wird von jedem Buch eine Handvoll Exemplare in den Laden bestellt. Wie gut sie sich tatsächlich verkaufen, steht und fällt mit der Thematik und der Art, wie ein Werk diskutiert wird. «Gerade kontroverse Diskussionen kommen bei den Kundinnen sehr gut an», sagt Frei. «Sie wollen sich eine eigene Meinung bilden und kaufen das Buch dann.» Das Buch Lieblingstochter von Sarah Jollien-Fardel, das in der Sendung vom 7. März 2023 besprochen wurde, sei zum Beispiel trotz der positiven Besprechung kaum verkauft worden, was Frei auf das «schreckliche Thema» des Romans zurückführt: Ein Vater, der in einem Walliser Bergdorf seine Tochter verprügelt und die Familie tyrannisiert, die Nachbarn schauen alle weg. Ganz anders verhalte es sich dagegen mit Christian Hallers Sich lichtende Nebel. Eine Woche nach der Ausstrahlung ist das Werk nicht mehr lieferbar, was bedeutet, dass es bei allen Lieferanten ausverkauft ist.
Das gilt auch für andere Medien, wie Frei betont: «Einmal stand im ‹Magazin› des ‹Tages-Anzeigers› ein winziger Kommentar zu einem Buch mit dem Titel Die blauen und die grauen Tage – das war nur eine Randspalte, aber in den Tagen darauf kam eine Kundin nach der andern mit diesem Zetteli in der Hand, aus der Zeitschrift gerissen, und fragten nach diesem Buch.»
Literaturformate helfen Konsumentinnen
Jedes Jahr erscheinen über 12’000 neue Titel auf dem Schweizer Buchmarkt. Das verstärkt nicht nur die Konkurrenz zwischen den Autorinnen, sondern bedeutet mitunter auch eine Überforderung für die Konsumentinnen und Konsumenten. «Wie ich es beobachte», sagt «Magazin»-Journalistin und Autorin Nina Kunz, die seit 2024 Kritikerin im «Literaturclub» ist, «gibt es generell ein Bedürfnis nach Tipps und Einordnung. Diesen Eindruck bekomme ich zumindest, wenn ich auf Instagram Buchtipps poste. Dann schreiben mir Leute: ‹Cool – das will ich lesen.›»
Nina Kunz’ 2021 erschienenes Buch, Ich denk, ich denk zu viel, eine Sammlung ihrer vor allem in der Coronazeit entstandenen Kolumnen für das «Magazin», stand anderthalb Jahre auf der Schweizer Bestsellerliste. Der Erfolg des Buches sei vor allem den Buchhandlungen und Mund-zu-Mund-Empfehlungen zu verdanken. «Buchläden sind nach wie vor sehr wichtig für ein Buch», sagt sie. «Wo steht es? Sieht man es gut? Solche Dinge. Ich habe ausserdem oft gehört, dass etwa eine Buchhändlerin es gelesen hat und dann der Schwester auf den Geburtstag geschenkt hat, die hat es dem Nachbarn ausgeliehen – und so weiter.»
Einmal, erinnert sich Regine Frei, sei eine Buchhändlerin als Gast im «Literaturclub» aufgetreten. Das von ihr besprochene Buch war in den nächsten Tagen allerdings vollkommen vergriffen. Keiner der üblichen Lieferanten hatte es an Lager, auch anderen Buchhandlungen war es unmöglich, an eine Ausgabe des Werks zu kommen. «Irgendwann fanden wir dann heraus», sagt Frei, «dass diese Frau sämtliche verfügbaren Exemplare des Buchs für ihre eigene Buchhandlung eingekauft und sich so ein Monopol angelegt hatte.»
Konträre Perspektiven als Gewinn
Nach einer knappen Stunde auf der Bühne im Papiersaal stehen die hitzigen Diskussionen allen Beteiligten ins Gesicht geschrieben. Man hört förmlich das Atemanhalten im Papiersaal, als Elke Heidenreich über Douglas Stuarts Young Mungo sagt: «Ich glaube, dass das ein gutes Buch ist, aber es war mir unerträglich zu lesen.» Das Buch sei eine «Orgie von Gewalt». Nicola Steiner nickt zustimmend, auch ihr sei zu übertrieben oft beschrieben worden, wie «zart» der Protagonist sei. Philipp Tingler fällt ihr ins Wort: «Also ich bin auch wahnsinnig zart!»
Nicola Steiner: «Ich möchte gern noch einen Lieblingssatz–»
Tingler unterbricht sie: «Nein, wir fangen jetzt nicht an, vorzu–»
Steiner ruft mit erhobener Stimme: «Einen Lieblingssatz, einen: ‹Sein Haar glänzte wie zu Zuckerwatte–›»
Tingler: «Jetzt kommt das schon wieder!»
Es folgen Ausrufe von allen Beteiligten gleichzeitig, ein unverständliches Stimmengewirr. Nicola Steiner entfährt ein entnervtes «Jahaa!» Das Publikum lacht verhalten. Nur Campino, von Berufswegen Punk und Rocker, sitzt ruhig, die Hände im Schoss gefaltet. Die Stimmung gleicht kurz der einer Arena zu Römerzeiten.
«Wenn man liest, gleicht man eigene Lebenswelten und Reaktionen ab», meint Steiner. Es sei deswegen auch wichtig, Kritiker und Gäste zur Sendung einzuladen, die sich gegenseitig ergänzten und «auch mal konträre Perspektiven» hätten.
«Ich liebe es, anderen Leuten dabei zuzuhören, wie sie über Lektüre-Erfahrungen erzählen und dann beschreiben, was für Assoziationen ein Text ausgelöst hat», meint Nina Kunz. «Ich lese das Feuilleton – als erstes immer die Buchrezensionen –, ich gucke den ‹Literaturclub›, höre Podcasts wie Literary Friction … Literatur ist ein Bereich, in dem man nie ausgelernt hat.»
Als Nicola Steiner zum 30-jährigen Jubiläum der Sendung am 6. Oktober 2020 in die Runde fragt, was das Lesen und Streiten darüber so zeitlos mache, sagt der irakisch-schweizerische Schriftsteller und «Literaturclub»-Kritiker Usama Al Shahmani: «Es gab im Irak nichts Gefährlicheres, als zu lesen. Lesen und schreiben, das war ausgeschlossen während der Diktatur. … Literaturclub – oder über Literatur zu reden – hat viel mit Freiheit zu tun. Und wenn man die Freiheit nicht hat, dann kann man nicht über Literatur reden.»
Lesen als körperliche Erfahrung
Auf der Bühne hat sich die Stimmung entspannt, Nicola Steiner lacht und sagt, ihr sei von einem Zuschauer zugetragen geworden, sie unterbreche die Kritiker zu wenig. Philipp Tingler hebt die Hand und ruft: «Das war ich, ich hab’ dir das geschrieben!» Lachen, dann das Zeichen der Produktionsleiterin. Applaus.
Auf die Frage, was ihr die Literatur bedeute, sagt Nicola Steiner später nachdenklich: «Wir sollten noch mehr über Ästhetik und Sprachkraft von Werken reden, über das Schöngeistige.» Manche Bücher erreichen einen mit ihrer Sprachlichkeit so stark, dass das Lesen eine körperliche Erfahrung wird. Als Beispiel nennt Steiner das Blutbuch von Kim de l’Horizon, ein «gesellschaftsrelevantes, themengetriggertes Buch», dessen Leseerlebnis durch und durch zu einem physischen werde. «Feinheiten im Leben kann man über Sprache lernen. Literatur ist auch eine Form der Selbsterfahrung über Sprache.»
Noemi Harnickell, Juni 2023