Schweizer «dialog»: Brücken bauen über die Sprachgrenzen
«Einverstanden, aber…» und «d‘accord, mais…»: Erstmals können Thurgauer:innen und Genfer:innen in ihrer eigenen Sprache miteinander debattieren. Die Onlineplattform «dialog» der SRG schlägt die Brücke über den Röstigraben. Ein Schlüssel zu mehr gegenseitigem Verständnis und gemeinsamer Identität.
Kriege, Krisen, Klimawandel: Ist die Welt aus den Fugen geraten? Diese Frage trieb unlängst die Nutzer:innen des SRG-Forums «dialog» um. «Kern W.», ein Forumsnutzer aus der Deutschschweiz, schreibt differenziert: «Wenn ich sehe, wie sich jedes Wochenende der Strassenverkehr auf der A13 von Jahr zu Jahr mehr staut, weil die Menschen mit ihren Autos im Sommer ins Tessin verreisen oder im Winter zum Skifahren, scheint es uns als Gesellschaft immer besser zu gehen», schreibt er. Allerdings habe sich aus seiner Sicht die Schere zwischen Arm und Reich massiv geöffnet. Hier hakt ein Nutzer aus der Romandie nach: «Auf welche Fakten stützen Sie Ihre Behauptung, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich massiv vergrössert hat?» Die Antwort kommt wieder aus der Deutschschweiz, von einem «Doktor Müller»: «Es kommt darauf an, wen man als reich bezeichnet. Die obersten ein Prozent sind deutlich reicher geworden. Die obersten zehn Prozent verhalten sich in den letzten Jahren stabiler.» Dazu wird noch ein Link geteilt.
Debatten wie diese finden seit August im «dialog»-Forum statt. Das Besondere daran: Im digitalen Debattierzimmer gibt es keine Sprachbarrieren. Dank künstlicher Intelligenz werden alle Voten in die vier Landessprachen sowie ins Englische übersetzt. Jede:r schreibt also in der bevorzugten Sprache und findet die Debatte in ebendieser vor: einer Person aus Genf wird sie beispielsweise in Französisch angezeigt, einer aus Chiasso in Italienisch. Das SRG-Pilotprojekt soll so den nationalen Zusammenhalt stärken und neue Perspektiven schaffen.
Pro und Contra: Konstruktiver Meinungsaustausch
Lanciert wurde das bis Ende 2025 befristete Projekt mit einer grossen Meinungsumfrage des Forschungsinstituts GfS unter dem Titel «Wie geht’s, Schweiz?». Seither startet das «dialog»-Team in der Regel einmal pro Woche eine neue Debatte. Die Themen entstehen aus der Aktualität oder aus einer Meinungsumfrage. Zum Beispiel: Bereitet die Schule die Kinder wirklich auf den Alltag vor? Oder: Profitieren die Richtigen von der 13. AHV-Rente? Begleitet werden die Fragen mit Informationen, Artikeln oder Grafiken. «Wir lancieren die Themen bewusst so, dass man entweder dafür oder dagegen ist», erklärt Projektleiter Marco Morell. So entstehe ein Austausch von Pro- und Contra-Standpunkten. «Wir sind positiv überrascht, wie gut das Niveau der Debatten bisher ist. Wir mussten kaum Kommentare zurückweisen, da alle Nutzer:innen sehr fair miteinander kommunizieren.»
Besonders freut sich das Team, wenn die Nutzer:innen aufeinander eingehen. «Mir gefiel es beispielsweise, als sich in einer Debatte plötzlich zwei Personen von Universitäten verschiedener Sprachregionen austauschten – Wissen und Einschätzungen wurden direkt geteilt. Das sind sehr wertvolle Momente», sagt «dialog»-Mitglied Agnès Wüthrich von RTS. Im Team sind alle Landesregionen vertreten. «Das ist eine grosse Bereicherung.» Schon vorher sei der Austausch zwischen den Sprachregionen gepflegt worden. So habe man beispielsweise Beiträge von Newssendungen anderer Regionen gesendet. «Das war aber punktuell. Jetzt wird ein direkter Austausch über den Röstigraben gesucht und wir merken: Es gibt einiges, was wir voneinander nicht wissen», so Agnès Wüthrich.
Der Schlüssel zum Verständnis
Sprachbarrieren überwinden und fundiert miteinander diskutieren: Diese Initiative begrüsst Olivier Tschopp, Direktor von Movetia, der nationalen Agentur für Austausch und Mobilität. «Das gegenseitige Verständnis und sich verstehen können ist ein fragiles Gut und keine Selbstverständlichkeit.» Man müsse sich von der Strafkultur des Sprachunterrichts verabschieden. In der Regel verstehe man sich ja auch mit kleineren grammatikalischen Fehlern. Falle die Sprachbarriere ganz weg und könne man miteinander problemlos und natürlich kommunizieren, sei das ein grosser Mehrwert: «Die Demokratie baut auf das Verständnis von kulturellen und sprachlichen Regionen. Wenn wir uns besser kennen und verstehen, wird unsere gemeinsame Identität gestärkt.»
Das ist jeweils auch an den virtuellen Sitzungen des «dialog»-Teams spürbar. «Jeder spricht in seiner Sprache. Die Kompetenz, einander zu verstehen, ist höher als man denkt», sagt Agnès Wüthrich von RTS. Früher sei man öfters auf die englische Sprache ausgewichen, das habe sich nun geändert. Falls nötig, übersetze Projektleiter Marco Morell ein Votum. Durch das Überwinden der Sprachgrenzen wird auch das SRG-Programm vielfältiger. Themen aus den Debatten und einzelnen Voten werden aufgegriffen und vertieft und fliessen schliesslich in SRG-Programme ein.
Vielfalt vereint: Nationale Diskussion regionaler Themen
Das Team stellt fest, dass regionale Themen national bewegen. Ein Beispiel: der Abschuss von Wölfen. «In der Romandie, in Graubünden, im Tessin, in der Deutschschweiz und sogar bei Auslandschweizer:innen wird dieses Thema emotional diskutiert», sagt Marco Morell. «In dieser Debatte waren jetzt keine grossen regionalen Unterschiede feststellbar.» Eine spannende Meinungsvielfalt sei dennoch entstanden.
Sich vom Schubladendenken zu verabschieden und miteinander ins Gespräch zu kommen, sei sehr verbindend, ergänzt Agnès Wüthrich. Und zitiert Altbundesrat Jean-Pascal Delamuraz, der gesagt hatte: «C’est parce qu’ils ne se comprennent pas que les Suisses s’entendent bien.» Genau das soll das Forum «dialog» verändern: Die Schweizer:innen sollen sich einander nah fühlen und sich auch verstehen.
Daniela Huwyler, Januar 2024