Die Stiftung Denk an mich: Freizeit ohne Barrieren
Die SRF-Stiftung Denk an mich schafft barrierefreie Ferien und Freizeitangebote. Denn niemand soll wegen körperlicher Einschränkungen auf Erholung und soziale Teilhabe verzichten müssen. Über eine Stiftung, die in einer Nische arbeitet und der ganzen Gesellschaft hilft.
Elodie und Daniel können sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt eine Nacht durchgeschlafen haben. Oft treibt es sie in die Verzweiflung. Die schlaflosen Nächte kommen ihnen wie Folter vor. Dann aber plagt sie wieder das schlechte Gewissen: Darf man so wütend sein über eine Situation, für die niemand etwas kann?
Als die gemeinsame Tochter Kim zwei Jahre alt ist, diagnostizieren die Ärzte bei ihr das Rett-Syndrom, eine neurologische Entwicklungsstörung, die sie geistig und körperlich stark einschränkt.
Kim kann weder selbst essen noch sitzen oder richtig sprechen. Bis heute trägt sie noch Windeln und erwacht jede Nacht mehrmals, schreiend. «Es ist», sagt Elodie, «als lebe man für immer mit einem monatealten Baby zusammen – aber Kim ist ein Kleinkind.»
Unverzichtbar und unbezahlbar: Pflegende Angehörige
So wie Elodie und Daniel geht es vielen Familien, mit Angehörigen mit Behinderungen. Im Jahr 2016 waren in der Schweiz rund 300’000 erwachsene Menschen auf die Unterstützung von 900’000 Angehörigen angewiesen. Rund 1,7 Millionen Menschen leben mit Behinderungen, das sind 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Die meisten Behinderungen, nämlich 80 Prozent, sind nicht angeboren wie bei Kim, sondern entstehen erst im Lauf des Lebens durch Unfälle und Krankheiten. Viele dieser Menschen haben ein Umfeld, Eltern, Geschwister, Freunde. Hochgerechnet sind also viel mehr Menschen von einer Behinderung betroffen, als es auf den ersten Blick erscheint.
Betreuende und pflegende Angehörige leisten gemäss Pro Infirmis im Schnitt jedes Jahr 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit. Das entspräche einem Lohn von 3,7 Milliarden Franken im Jahr. Während zu jedem anderen Job Mittagspausen, Wochenenden und Ferien dazugehören, fehlen Betroffenen oft die Zeit, das Geld und die Unterstützung, um Pausen machen zu können.
Auch Elodie und Daniel bringt die Betreuungsarbeit von Tochter Kim immer wieder an ihre Grenzen. Sie leiden an Depressionen, Daniel hat ein Burnout. «Schlafentzug ist eine Foltermethode in Gefängnissen», meint Daniel. «Er macht dich nicht nur ein bisschen dünnhäutig und reizbar, sondern auf Dauer richtig krank.»
Die Geburtsstunde der Stiftung Denk an mich
Wie wichtig Freizeitmöglichkeiten auch für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen sind, hat schon 1968 ein Moderatorenehepaar des Schweizer Radios realisiert. Martin und Jeanette Plattner moderieren damals beide bei SRF und rufen gemeinsam die Radiosendung Denk an mich ins Leben.
Mit Spendengeldern ermöglichen sie etwa den barrierefreien Umbau von Ferienunterkünften in der ganzen Schweiz, denn bis dahin werden Kinder mit Behinderungen oft in Altersheimen untergebracht. Ausserdem unterstützen sie Ferienlager für Betroffene. Die Plattners suchen auch das Gespräch mit der SBB. Rollstühle fahren damals nämlich nur im Postwagen mit. Eltern erhalten so die Gelegenheit, mit ihren Kindern mit Behinderung verhältnismässig unkompliziert in die Ferien zu fahren – oder sich daheim von der Betreuungsarbeit zu erholen, während die Kinder in Ferienlagern professionell umsorgt werden.
«Wir wollten nicht nur Geld sammeln», sagt Martin Plattner 1998 in einem Interview, «sondern bei den Kindern und Jugendlichen das Bewusstsein impfen, dass es behinderte Mitmenschen in unserem Land gibt, die nicht Mitleid brauchen, sondern Unterstützung, Solidarität und Integration.»
Kinder sammeln für Kinder
In den Sendungen erzählen sie Geschichten von Kindern, die mit Behinderungen leben. Sie fordern die jungen Zuhörer:innen auf, kreativ zu werden und eigene Sammelaktionen zu starten. «Wir erklärten: Kinder mit Behinderung können nicht in die Ferien», sagt Martin Plattner. «Aber auch sie brauchen Ferien und haben vor allem auch ein Recht darauf, in die Ferien zu fahren.»
SRF gibt dem Paar ein Startkapital von 2’500 Franken. Niemand ahnt damals, dass aus dem kleinen Schneeball der Spendenaktion eine Lawine des sozialen Engagements werden würde. Aber die Kinder fangen an zu basteln, zu backen, zeichnen und musizieren. Sie schreiben Briefe an die Sendung und freuen sich, wenn diese im Radio vorgelesen werden.
Bereits im ersten Jahr kommen allein durch die von Kindern organisierten Aktionen 100’000 Franken zusammen. Bald schwappt der Aktionismus auch auf die Erwachsenen über. Man sammelt an runden Geburtstagen, an Firmenanlässen und an Basaren. «Durch die Spendenaktionen wirkt die Stiftung Denk an mich gemeinschaftsfördernd», betont Jeannette Plattner-Blattner. 56 Jahre später ist aus der Sendung und dem Engagement der Plattners eine Stiftung gewachsen, die Freizeit- und Ferienaktivitäten für Menschen mit Behinderungen fördert und sich für eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einsetzt. Auch Elodie und Daniel werden von der Stiftung Denk an mich unterstützt.
«Das war unsere Rettung»
Es ist ein Dienstag Anfang Juli 2024. Einer der ersten warmen Sommertage nach vielen Wochen scheinbar endlosen Regens. Für Elodie und Daniel sind die finstersten Tage vorbei, ihre Gesichter mehr von Lachfalten geprägt als von Augenringen. Sie lachen viel, wenn sie von Kim erzählen, der jüngsten ihrer drei Töchter. Davon etwa, dass «Bain» eines der einzigen Wörter ist, die Kim sagen kann. Baden. Kims Lieblingsbeschäftigung.
Mehr als drei Jahre sind seit Kims Diagnose vergangen. Normalität wird sich im Alltag der Familie vielleicht nie wieder einpendeln – dafür aber eine Routine, die sie nicht an den Rand des Wahnsinns treibt. Möglich macht das unter anderem der Entlastungsdienst der Pro Infirmis, der von der Stiftung Denk an mich finanziert wird. «Das war unsere Rettung», sagt Daniel. Die Behindertenorganisation schickt einmal pro Woche Pfleger Philippe vorbei, der sich um Kim kümmert, während Daniel und Elodie entweder mit den anderen Kindern spielen oder die Freizeit nutzen, um sich zu sich erholen. «Ohne den Entlastungsdienst», so Daniel, «wären wir an der Überforderung zerbrochen.»
Der Entlastungsdienst für Eltern wie Daniel und Elodie ist nur ein Teil von dem, was aus der Stiftung Denk an mich über die Jahre geworden ist. Die Stiftung fördert auch barrierefreie Spielplätze und Ferienunterkünfte, wie Reka-Dörfer und Jugendherbergen. Die Stiftung Denk an mich arbeitet mit knapp 500 zertifizierten Partnerorganisationen zusammen. Inzwischen richten sich die Angebote auch an Erwachsene. Mit bis zu drei Millionen Franken unterstützt sie pro Jahr mehr als 25’000 Menschen. Bis heute konnte die Stiftung 110 Millionen Franken Spendengelder sammeln.
Die Strategie: Wirkung sichtbar machen
Die Stiftung Denk an mich ist heute finanziell von der SRG unabhängig, aber die Partnerschaft bringt Vorteile für beide Seiten mit sich.
SRF generiert Sichtbarkeit für die Stiftung, etwa durch eine Radiosendung am Samstagmorgen auf SRF 1 und durch Spendenaufrufe im Tagesprogramm. «Umgekehrt gibt die Stiftung Denk an mich SRF ein Gesicht», sagt Geschäftsführerin Sara Meyer. So bietet die Stiftung unter anderem Studioführungen für die Gönner:innen an, was wiederum ihre Beziehung zur SRG stärkt.
«Vielfalt verbindet», sagte auch Natalie Wappler, SRF-Direktorin, während der Eröffnungsfeier der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte im SRF-Studio in Zürich Leutschenbach im Mai 2024. «Barrierefreiheit ist nicht nur das Entfernen von Stufen, sondern auch eine Anpassung der Sprache.»
Sara Meyer hat mit ihrem Team eine sogenannte «Wirkungskommunikation» etabliert. Das heisst, die Stiftung berichtet in ihren Samstagssendungen auf SRF 1 sowie in ihren Newslettern und Briefen an erster Stelle darüber, wo die Spendengelder eingesetzt werden und was sie alles an Freizeit- und Ferienaktivitäten möglich machen. «Wir machen einen Unterschied im Alltag der Betroffenen», betont Meyer.
Für Meyer hat dies in erster Linie mit Respekt zu tun. Für die Betroffenen – und für die Spender:innen. Es scheint fast obsolet, diese Tatsache zu wiederholen, aber ohne Spendengelder kann eine Förderstiftung wenig erreichen. «Wir empfinden eine tiefe Dankbarkeit für alle Spenden», betont Meyer. Selbst die Verdankungen schreibt sie persönlich, da es ihr ein Anliegen ist, ihre Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Sie wolle, so Meyer, nicht nur echte Geschichten vermitteln, sondern auch echte Gefühle.
Nicht nur in der Radiosendung kommen Betroffene selbst zu Wort. Auch Video- und Textreportagen auf der Website der Stiftung erzählen ihre Geschichten. Viele Flyer der Stiftung ziert die Kunst von Johji, der mit Autismus lebt und in Form von Zeichnungen kommuniziert. 2020 zierten seine Selbstporträts sogar die Uhren von Swatch. «Wir tendieren dazu, Menschen mit Behinderungen anhand ihrer sichtbaren Einschränkungen anstelle ihrer Kompetenzen zu bewerten», sagt Sara Meyer. «Dabei sind es wie Johji ganz normale Menschen mit Stärken und Schwächen.»
Mehr Gehör für Inklusion
Ein wichtiges Anliegen ist Sara Meyer auch die Positionierung innerhalb von SRF. Die Stiftung ist als Kompetenzzentrum für Inklusionsfragen nicht ausreichend verankert. Dabei verfügt sie über ein grosses Netzwerk, um Medienschaffende in ihrer Arbeit zu unterstützen. Das Team kann Fachpersonen vermitteln, Kontakte zu Menschen mit Behinderungen herstellen, infrastrukturelle Herausforderungen lösen, Workshops für Journalist:innen organisieren und technologische Entwicklungen begleiten. Das dient nicht nur der Effizienz, sondern auch der Glaubwürdigkeit des Medienhauses.
Als zum Beispiel im März 2024 die Wetter-App der SRF-Meteo ein neues Design erhielt, hagelte es Kritik: Die Kartenansicht war durch die kontrastarme Darstellung der weiss eingefärbten Schweiz mit weissen Wolken für Menschen mit Sehbehinderungen nicht mehr nutzbar. Sie musste kurz darauf wieder umgestellt werden. «Solche Erfahrungen lassen sich durch eine konsequente Zusammenarbeit vermeiden», so Meyer. «Redet einfach mit uns!»
«Redet mit uns!» ist der Appell an eine ganze Gesellschaft, Betroffenen öfter zuzuhören und ihnen den Raum zu geben, ihre Bedürfnisse auszudrücken. Die kommunikativen Schwierigkeiten zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen sind nicht einem mangelnden Goodwill verschuldet, sondern spiegeln vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Haltung wider.
Was kann man dagegen tun? Nur eines: Die Menschen sprechen lassen. Und vor allem: ihnen zuhören.
Gemeinsam reisen: Barrierefreiheit in Schweizer Jugendherbergen
Seit 2013 arbeitet die Stiftung Denk an mich am Grossprojekt «Ferien für alle» der Schweizer Jugendherbergen mit. Die Projektskizze sieht mitunter vor, dass alle Jugendherbergen barrierefrei zugänglich sind.
«Bestehende Gebäude behindertengerecht umzubauen, ist oft mit sehr hohen Kosten verbunden», sagt René Dobler, CEO der Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus. «Die Stiftung Denk an mich hat uns ermöglicht, hier schneller Fortschritte zu erzielen.» 25 Jugendherbergen sind aktuell komplett hindernisfrei für Standard-Rollstühle zugänglich, 7 weitere sind bedingt barrierefrei.
Barrierefrei, so Dobler, bedeute aber nicht nur rollstuhlgängige Bauten, sondern auch die Sensibilisierung und Bildung von Mitarbeiter:innen sowie eine inklusive Kommunikation für die Gäste. «Menschen mit Behinderungen sind in unserem Alltag oft nicht sichtbar», sagt Dobler. «Und wenn Ferienunterkünfte nicht an ihre Bedürfnisse angepasst sind, müssen sie auch ihren Urlaub fernab von allen anderen verbringen.» Mit der Initiative «Ferien für alle» werden Ferien für Menschen mit Behinderungen zu erschwinglichen Preisen zugänglich. «Es ist ein Mehrwert für die Gesellschaft», sagt Dobler, «wenn wir einander begegnen und dabei andere Lebenswelten kennenlernen.»
Ein schönes Leben für Kim – und ihre Eltern
Elodie hat von Kim viel über die Liebe gelernt. Etwa, dass sie ihre Tochter lieben, ihre Krankheit aber hassen kann. Und dass es Liebe ist, nicht die ganze Betreuung auf sich selbst zu nehmen.
Ein Psychologe habe ihnen das Rett-Syndrom so erklärt, meint Daniel: «Kims Gehirn ist wie in einem guten Drogenrausch. Sie ist ständig im Paradies – es sei denn, etwas behagt ihr nicht, dann fällt sie sofort in eine Hölle.» Das kann alles sein, von Hunger über eine volle Windel bis hin zu Bauchschmerzen. Weil sie nicht kommunizieren kann, weint und schreit sie. Ihre Eltern müssen immer wieder aufs Neue nach Ursachen suchen. Selbst wenn sie zufrieden ist, kann sich ihre Stimmung im Handumdrehen kehren. Für die Eltern bedeutet das eine permanente Anspannung.
Für Daniel und Elodie ist klar: Ein schönes Leben für Kim setzt voraus, dass auch sie das Leben geniessen können. Seit einem Jahr besucht Kim darum ein Schulheim, in dem sie zweimal pro Woche sogar übernachtet. Dort erhält Kim nicht nur therapeutische Unterstützung, sondern auch viel Zuneigung und Liebe. «Wenn wir abends anrufen, hören wir sie im Hintergrund kichern», sagt Elodie. «Wenn sie nach Hause zurückkommt, ist sie fröhlich und entspannt – und wir sind es auch!»
Noemi Harnickell, Juli 2024
Seit 1976 ist die Stiftung Denk an mich von der Schweizerischen Zertifizierungsstelle für gemeinnützige Spenden sammelnde Organisationen ZEWO. zertifiziert. Die ZEWO prüft Non-Profit-Organisationen aufgrund von 21 Standards auf ihre Wirksamkeit und Transparenz.
«Die Stiftung Denk an mich agiert zwar in einer Nische», erklärt Geschäftsleiterin Martina Ziegerer. «Aber sie leistet durch die wöchentlichen Radiobeiträge auf SRF 1 wichtige Sensibilisierungsarbeit und macht den Leuten bewusst, was gesellschaftliche Teilhabe bedeutet. Dabei reproduziert sie keine Stereotype, sondern lässt die Menschen für sich sprechen.»