Für trockene Polit-Themen begeistern, ohne seicht zu werden

Sie soll ausgewogen sein, spannend und die Bevölkerung für Politik begeistern: Wahlberichterstattung erfordert viel Fingerspitzengefühl und ein gutes Gespür für Themen, die bewegen. Drei SRG-Chefredaktoren erzählen, wie sie die diese Kunst meistern und wie die SRG zur politischen Meinungsbildung beiträgt.

Drei Polit-Profis, drei Fragen: Urs Leuthard, Laurent Caspary und Flavio Bundi verantworten bei SRF, RTS und RTR die Berichterstattung vor und während Wahlen. In Kurzinterviews beantworten sie je drei Fragen über Ausgewogenheit, Demokratie und Herausforderungen und blicken dabei zurück auf die eidgenössischen Wahlen 2023.

Im Wahlstudio von SRF mit Urs Leuthard (links)

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Am Wahlsonntag hat jeder Kanton eine:n eigene:n Korrespondent:in.»
Urs Leuthard, Leiter der Fernseh-Bundeshausredaktion bei SRF
SRF: «Manchmal ein Eiertanz, damit es aufgeht»

Rund um die Wahlen 2023 gab es bei SRF diverse Sendungen, im Radio etwa der «Wahlzmorgen» und der «Parteiencheck», im Fernsehen wurde Bewährtes wie die «Arena» um ein neues Format namens «Bitte auf den Punkt!» ergänzt. Den Wahlsonntag selbst deckte SRF während zwölf Stunden mit Live-Schaltungen, Analysen und Hochrechnungen aus allen 26 Kantonshauptstädten ab.

Urs Leuthard, Leiter der Fernseh-Bundeshausredaktion bei SRF, hat zum sechsten Mal eidgenössische Wahlen analysiert.

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Urs Leuthard, Leiter der Fernseh-Bundeshausredaktion bei SRF

Urs Leuthard, wie gewährleistet man eine ausgewogene Berichterstattung rund um die Wahlen?
Wir halten uns an die SRG-Leitlinien: Die Berichterstattung soll sachgerecht, vielfältig und unabhängig sein. Dazu gehört die besondere Sorgfaltspflicht, die bei Wahlen und Abstimmungen besonders in den sechs Monaten vor dem Wahl- oder Abstimmungssonntag wichtig ist. Das heisst, wir bemühen uns noch mehr als sonst, dass alle Parteien gleich behandelt werden. Bei den Newssendungen messen wir dafür zwar nicht die Länge der Beiträge wie bei Talk-Sendungen wie der «Arena». Wir versuchen jedoch, das Gesamtbild im Fokus zu behalten. Drei Wochen vor den Wahlen, in der sogenannten heissen Phase, gibt es übrigens keine Einzelportraits mehr und die Wahlberichterstattung wird zurückgefahren.

Was ist die grösste Herausforderung bei der Berichterstattung?
Ich sehe hier drei Punkte. Erstens allen Kandidierenden gerecht zu werden und gleichzeitig die normale Newsberichterstattung zu gewährleisten. Das ist manchmal ein Eiertanz, damit es aufgeht. Es stellen sich täglich Fragen wie: Kann man noch ein Interview führen, ohne die Ausgewogenheit zu verlieren? Dieser Prozess wird sehr eng begleitet, in der Planung, aber auch in unserer Feedbackrunde.
Zweitens stellten wir bei den letzten Wahlen fest, dass im Vorfeld viele Parteien die Aufmerksamkeit gesucht und vermehrt zu Medienkonferenzen eingeladen haben. Hier schauten wir sehr genau hin: Ist das Thema grundsätzlich relevant oder handelt es sich bloss um einen Wahlkampf-Event? Und nicht zuletzt war es eine Herausforderung, mit unseren beschränkten Ressourcen allen gerecht zu werden – die Hälfte des Teams war in den Wochen vor den Wahlen mit der Vorbereitung der Wahltag-Sendung beschäftigt.

Wo liegt die Stärke bei der SRG-Berichterstattung?
Wir haben den Anspruch, unabhängig zu sein. Und ich denke, das gelingt uns ganz gut. Im Gegensatz zu einigen privaten Medienhäusern haben wir keine Nähe zu einer bestimmten Partei. Was ich an meiner Arbeit sehr schätze: In den letzten 20 Jahren hat sich noch nie ein Vorgesetzter in meine Arbeit eingemischt oder eine Geschichte zu beeinflussen versucht. Wir können publizistisch immer selbst entscheiden, was sinnvoll ist und was nicht. Ausserdem zeichnet uns ein grosses Netz von Korrespondent:innen aus: Am Wahlsonntag hat jeder Kanton eine:n eigene:n Korrespondent:in.

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Wir sind verpflichtet, ein Gleichgewicht zu finden. Dazu messen wir in allen Sendungen die Präsenz und Redezeiten der politischen Gäste.»
Laurent Caspary, Chefredaktor von Radio RTS
RTS: Direkte Debatte zwischen Bevölkerung und Parteien

Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen legte RTS den Fokus bewusst auf die Bevölkerung. So wurden im Format «L’avis d’ici» 18 Personen portraitiert – sie konfrontierten Parteiverantwortliche im Laufe des Wahlkampfs mit Fragen aus dem Alltag.

Laurent Caspary ist seit sieben Jahren Chefredaktor von Radio RTS und seit 14 Jahren beim Sender tätig.

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Laurent Caspary, Chefredaktor von Radio RTS

Laurent Caspary, wie gewährleistet man eine ausgewogene Berichterstattung rund um die Wahlen?
Wir sind verpflichtet, ein Gleichgewicht zu finden. Dazu messen wir in allen Sendungen die Präsenz und Redezeiten der politischen Gäste. Das machen wir grundsätzlich immer, in den Wochen vor den Wahlen aber besonders sorgfältig. So haben wir ab dem 21. August jeden Auftritt eines politischen Parteimitglieds auf unserem Sender verfolgt, um einen umfassenden Überblick über unser Angebot zu haben und die Präsenz der Parteien bei Bedarf ausgleichen zu können. Wir haben dafür die Dauer der Auftritte festgehalten, die Art der Sendung und das Format, also ob es sich zum Beispiel um ein Live-Interview handelt oder um eine aufgezeichnete Reaktion. Das Gleichgewicht zu finden war nicht immer leicht. Gerade rund um den Rücktritt und die Nachfolge von Alain Berset gab es vielleicht einen Überhang bei der SP.

Wo liegt die Stärke bei der SRG-Berichterstattung?
In der Nähe zur Bevölkerung, die wir auch dank unserem Korrespondent:innen-Netzwerk in allen Kantonen schaffen. Wir können unserem Publikum ein genaues Bild der Funktionsweise der Schweiz vermitteln. Darüber hinaus haben wir auch eng mit den privaten Fernsehstationen zusammengearbeitet und beispielsweise ihre Debatten auf unserer Seite verlinkt. So können beide Seiten profitieren: wir von der Nähe der Lokalsender zu den städtischen Debatten, sie von unserer Breite und Vielfalt.

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Die Wahlen erscheinen für manche Bürger:innen zu komplex. Wir möchten erreichen, dass sie sich dafür interessieren. Deshalb ist die Auswahl relevanter Themen und Aspekte die grösste Herausforderung.»
Laurent Caspary, Chefredaktor von Radio RTS

Was ist die grösste Herausforderung bei der Berichterstattung?
Die Wahlen erscheinen für manche Bürger:innen zu komplex. Wir möchten erreichen, dass sie sich dafür interessieren. Deshalb ist die Auswahl relevanter Themen und Aspekte die grösste Herausforderung. Indem wir klare redaktionelle Entscheidungen treffen, erhöhen wir unsere Chancen, die Aufmerksamkeit unserer Zuhörer:innen zu erreichen und ihnen klarzumachen, dass sie eine politische Wahl treffen können. Wir tun dies mit klassischen Formaten wie Debatten zwischen Politiker:innen oder bei den Wahlen 2023 erstmals auch mit dem neuen Gefäss «L’avis d’ici». Für diesen Schwerpunkt haben wir 18 Personen aus möglichst vielen verschiedenen Altersklassen, Berufsgattungen und Regionen gesucht und ein Spektrum an Leuten zusammengestellt – vom Arbeitslosen bis zum Patron. Die Personen wurden von unseren Journalist:innen während einer Woche sehr nah begleitet – es gab sogar Kolleg:innen, die bei ihnen übernachtet haben. Daraus entstanden Audio- und Videoporträts. In den Sendungen haben diese Personen den Parteien und Kandidierenden ihre persönlichen Fragen gestellt, zu Themen wie Kaufkraft, Einwanderung, Gesundheit oder auch Umwelt. Das war eine neue Erfahrung für alle: eine echte und direkte Debatte, die auch die Parteiverantwortlichen herausgefordert hat.

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Unsere Stärke als SRG scheint mir, dass wir regional verankert und deshalb sehr nahe am Publikum sind.»
Flavio Bundi Chefredaktor bei RTR
RTR: «Stets die Dosierung überprüfen»

In Graubünden wollte RTR bei den letzten eidgenössischen Wahlen mit verschiedenen Formaten jeder Altersgruppe gerecht werden und die Politik fassbar machen. Im Zentrum stand die Frage der Partizipation. So besuchte RTR etwa die Gemeinde mit der tiefsten Wahlbeteiligung – Schluein – und jene mit der höchsten: Lohn.

Flavio Bundi ist seit sechs Jahren Chefredaktor bei RTR.

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Flavio Bundi, Chefredaktor bei RTR.

Flavio Bundi, wie gewährleistet man eine neutrale Berichterstattung rund um die Wahlen?
Für mich sind drei Punkte wichtig: erkennen, einordnen und ermöglichen. In einem ersten Schritt – und dies ist wohl auch der wichtigste Punkt – geht es um genaues Zuhören. Ohne bereits zu werten oder einzuordnen. Es geht bloss darum zu verstehen, was die Bevölkerung bewegt und beschäftigt. Dann das Vertiefen und in einen Zusammenhang setzen: Welche Konsequenzen haben Auffassungen und Denkweisen? Wie sieht der Kontext aus? So kann das Publikum Informationen einordnen. Und schliesslich: in einen Dialog treten, um sich auszutauschen. Eine gelebte Demokratie sollte mit einer Diskussion einhergehen, und dafür möchten wir Hand bieten. Echte Begegnungen schaffen einen Dialog und helfen, über den Tellerrand hinauszuschauen.

Was ist die grösste Herausforderung bei der Berichterstattung?
Das Publikum abzuholen und Politik fassbar zu machen. Denn die politische Partizipation ist in unserem Land eigentlich zu niedrig. Eine Demokratie funktioniert jedoch nur, wenn man sich beteiligt. Unser Antrieb ist deshalb, beim Publikum das Interesse für Wahlen und politische Themen zu wecken. Unsere grösste Herausforderung rund um die eidgenössischen Wahlen war es, stets die Dosierung der Berichterstattung zu überprüfen: nicht zu viel, nicht zu wenig. Beschäftigt hat uns auch die Frage, wie lustig und attraktiv Politik sein darf. Auch wenn wir Interesse gewinnen möchten, soll die Berichterstattung nicht zur reinen Unterhaltung werden, sondern muss mit Ernsthaftigkeit betrieben werden.

Wo liegt die Stärke bei der SRG-Berichterstattung?
Auch die privaten Medien leisten gute Arbeit, das möchte ich vorab erwähnen. Unsere Stärke als SRG scheint mir, dass wir regional verankert und deshalb sehr nahe am Publikum sind. Ausserdem sind wir digital gut aufgestellt, etwa mit Datenjournalismus und weiterführenden Informationen, die einen echten Mehrwert bieten.

Daniela Huwyler, März 2024

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