Sport ohne Grenzen: Die Vielfalt und Stärke des Schweizer Parasports
Der Parasport ist ein wichtiger Bestandteil des vielfältigen Schweizer Sportpanoramas. Die inklusive Sportberichterstattung fördert ein Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit.
Janine Geigele fallen auf die Schnelle hundert spannende Menschen ein, über die noch nie geschrieben wurde. Es sind Menschen, die das scheinbar Unmögliche schaffen. Die trotz Rollstuhl Ski-Absprünge wagen, mit den Händen Rad fahren und blind Marathons rennen. Es sind Menschen, die alltägliche Sportarten zu etwas Besonderem machen, weil der Sport nicht für sie gemacht scheint.
Geigele war über 25 Jahre als Sportjournalistin tätig und moderierte zwischen 1999 und 2002 als erste Frau «Sport aktuell» auf SRF. Heute arbeitet sie als Kommunikationsverantwortliche beim Behindertensportverband PluSport. Sie sagt: «Jede Geschichte, die es in die Medien schafft, ist ein Erfolg.»
In der Schweiz leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung. 100 von ihnen sind von Swiss Paralympic derzeit als aktive Athlet:innen verzeichnet.
100 von ihnen sind von Swiss Paralympic derzeit als aktive Athlet:innen verzeichnet. Sie gewinnen Medaillen in London, Tokio und Seoul. Mit ihren Leistungen beweisen sie, dass sie nicht auf ihre Behinderungen reduziert werden können. Die öffentliche Berichterstattung über Para-Sportarten fördert Inklusion, bekämpft gesellschaftliche Vorurteile und inspiriert Menschen mit Behinderungen dazu, ihre sportlichen Träume zu verfolgen.
Von Oberbipp nach Tokio
Als Heinz Frei 1984 von den paralympischen Spielen in Stoke Mandeville mit Gold nach Oberbipp bei Solothurn zurückkehrte, interessierte sich über die Dorfgemeinschaft hinaus niemand für den Sieg des jungen Mannes. Die Welt des Parasports fand abseits des Regelsports statt, der Alltag der Rollstuhlfahrer:innen überschnitt sich selten mit dem der Gehenden.
Frei hat den Wandel in der Schweizer Sportberichterstattung an der eigenen Haut miterlebt und weiss: Interesse und Verständnis wachsen Hand in Hand.
Die ersten Sportspiele für Rollstuhlfahrer:innen, die Stoke Mandeville Games, wurden bereits im Jahr 1948 in England durchgeführt, und zwar parallel zu den Olympischen Spielen. 1960 folgten schliesslich die erste Paralympics in Rom unter dem Namen «Weltspiele der Gelähmten», allerdings bereits nicht mehr zur gleichen Zeit wie die Olympischen Sommerspiele.
Die Sommer-Paralympics 1980 in Arnhem liessen zum ersten Mal auch cerebral-bewegungsgestörte Athlet:innen am Wettkampf zu. Das war ein Meilenstein der Inklusion – der den jungen Heinz Frei damals allerdings wenig beeindruckte. Frei sass seit zwei Jahren im Rollstuhl. Dass er selbst eines Tages paralympischer Athlet sein könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Er musste erst lernen, sich neu in das alte Leben zu integrieren. Eine Gebrauchsanleitung, wie ein Leben im Rollstuhl gelingen würde, gab es für den damals 22-Jährigen keine.
Ein Gefährt fürs Leben
Der Sport hat Heinz Frei ein Leben lang geprägt. Er war ein aktives Mitglied des Oberbipper Turnvereins, er joggte, fuhr Fahrrad und Ski. Dann kam 1978, Frei war 20 Jahre alt. Bei der Streckenbesichtigung zu einem Berglauf rutschte er auf dem nassen Untergrund aus und stürzte einen Abhang hinunter in einen kleinen Tobel.
Frei hatte Glück: Er überlebte den Fall. Aber: Er würde nie wieder joggen oder Ski fahren. Die Diagnose: querschnittsgelähmt.
«Diese Diagnose ist lebenslänglich», meint Frei. Von der Erschütterung, die er damals gefühlt haben muss, ist in seiner Stimme nichts mehr zu hören. Nur in seinen Worten hallt sie noch nach. Frei verbrachte viele Wochen und Monate mit der Hoffnung auf ein Wundermittel der Medizin. Eine plötzliche neue Entdeckung, die ihn aus dem Rollstuhl befreien würde. «Wenn ein Verbrecher ‹lebenslänglich› bekommt», sagt er, «dann ist er nach 20 Jahren wieder frei. Aber wenn du querschnittsgelähmt bist, dann sitzt du wirklich bis ans Ende deines Lebens.»
Dass der Rollstuhl ihm nicht die Freiheit raubte, sondern nach seinem Unfall wieder schenken könnte, musste Heinz Frei erst herausfinden.
Begierig, einen Weg zurück in den Sport zu finden, meldete er sich im Rollstuhlclub an. «Da habe ich gemerkt: Das ist eine ziemlich abgeschottete Gesellschaft, diese Rollstuhlfahrer!», erzählt Frei und lacht. «Da wurde so eine allgemeine Turnstunde organisiert, in der man sich mit seinen normalen Rollstühlen nur ein bisschen bewegt hat.»
Der erste paralympische Marathon
Da musste doch mehr möglich sein, war sich Frei sicher. Gemeinsam mit einem befreundeten Rollstuhlfahrer begann er, in dessen Garage einen Rennrollstuhl zu bauen. Das fertige Gefährt hatte ein niedrigeres Chassis, wodurch Frei mit der Hand länger am Triebring bleiben konnte. Der Ring war zudem kleiner als beim gewöhnlichen Rollstuhl. Das brauchte zwar für den Antrieb etwas mehr Kraft, machte den ganzen Rollstuhl aber deutlich schneller. Mit diesen Rennrollstühlen traten die beiden Freunde gegeneinander an – und 1981 nahm Heinz Frei damit sogar an der Schweizerleichtathletikmeisterschaft in Zofingen teil.
Es waren aber nicht nur die Medien, die sich wenig mit dem Behindertensport auseinandersetzten. Auch in der Medizin herrschte lange grosses Unwissen. Das Jahr 1984, in dem Heinz Frei zum ersten Mal an einem paralympischen Marathon teilnahm, war das erste Jahr, in dem der Marathon als sportliche Disziplin für Rollstuhlfahrer:innen überhaupt zugelassen war. Ärzt:innen hatten über Jahrzehnte hinweg grosse Bedenken geäussert. Zu grosse Anstrengung könne zu Druckstellen an den Händen führen und es schade überdies der Körperhaltung. Wirklich bewiesen war nichts. Noch 1976 war die längste Renndistanz für Rollstuhlfahrer:innen bei den paralympischen Spielen in Toronto nur 400 Meter.
Vor einigen Jahren stellte sich Frei einer Studie zur Verfügung, in der die Auswirkung von Sport auf die Schultern von Paraplegiker:innen getestet wurde. Es zeigte sich: Wer im Rollstuhl sitzt und viel Sport macht, hat eine aufrechtere Körperhaltung und weniger Schmerzen.
Sichtbarkeit fördert Verständnis
«Parasportler zeigen uns, dass man etwas erreichen kann – ganz egal, was man auch hat!», sagt Susy Schär, ehemalige Sportchefin bei Radio SRF. Sie berichtete 30 Jahre lang über den Parasport, unter anderem auch live aus London, wo 2012 die Paralympics gemeinsam mit den Olympischen Spielen stattfanden. 80’000 Zuschauer, das Stadium voll.
«Para-Athleten haben keinen Mitleidsbonus nötig», meint Schär. Sie sammelte ihre Erfahrungen nicht nur beim Berichten über Grossanlässe, sondern auch während eines Sabbaticals im Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Von der Gruppe aufgefordert habe sie sich einmal in einen Rollstuhl gesetzt und beim Rollstuhl-Basketball mitgespielt. «Mir begegnen immer wieder Journalisten und Journalistinnen, die seltsam gehemmt sind, wenn sie über Menschen mit Behinderungen schreiben sollen», sagt sie. «Diese Hemmungen legt man nur dadurch ab, dass man diesen Menschen begegnet und ihnen eine Plattform gibt. So wächst auch das gesellschaftliche Verständnis für ihre Behinderungen.»
Eine inklusive Berichterstattung ist eine identitäts- und dadurch auch demokratiestiftende Aufgabe, der sich die SRG verpflichtet hat.
Die sprachregionalen SRG-Sender berichten seit über 20 Jahren über Parasport-Events, allen voran über die Paralympics, die spätestens seit 2016 fester Bestandteil der Live-Berichterstattung sind. Dazu kommen verschiedene Begleitprogramme wie etwa das TV-Magazin «Para-Graf», in dem der YouTuber und Moderator Jahn Graf die Paralympischen Spiele 2020 in Tokio diskutierte. «Der Sport ist das erste Tummelfeld der Demokratie», sagt Christof Baer, CEO von PluSport. «Er zeigt die ganze Vielfalt der Gesellschaft.»
Der Parasport zwischen der publizistischen und der gesellschaftspolitischen Ebene
Damit Parasport-Events in Fernsehen und Radio ausgestrahlt werden, braucht es vor allem Reporter:innen wie Janine Geigele, die sich dafür begeistern und engagieren, – und ein Publikum, das zuschaltet. Das ist die publizistische Ebene. Sie richtet sich nach Zahlen und hat keine Mühe, die Frage nach dem Public Value einer Sportsendung zu beantworten: Den grössten gesellschaftlichen Mehrwert hat, was die meisten Menschen sehen wollen.
Weitaus komplexer ist die gesellschaftspolitische Ebene. Sie stellt die Frage, wie es gelingen kann, das Diskriminierungsverbot, das Behindertengesetz und das Vielfaltsgebot in den Medien adäquat umzusetzen und wie Inklusion gespiegelt werden kann. Seit 1987 zeichnet die SRG im Rahmen der «Sports Awards» in der Kategorie «Paralympische Sportlerin oder Paralympischer Sportler» die erfolgreichsten Para-Sportler*innen aus. Heinz Frei ist mit elf Siegen der Rekordhalter.
Inklusive Rad-WM: Wirkung über den Sport hinaus
«Es gibt keine Nachfrage, wenn man nicht weiss, dass etwas existiert», sagt Janine Geigele von PluSport. Sie kontert damit gegen die oft gehörten Argumente von Redaktionen, das Publikum interessiere sich nicht für den Para-Sport. Sie und Christoph Baer sind sich einig: Der Parasport muss eine Selbstverständlichkeit erlangen – in der Berichterstattung und in der Gesellschaft.
Durch das Sichtbarmachen der gesellschaftlichen Vielfalt werden Menschen mit Behinderungen als fähige Mitglieder dieser Gesellschaft wahrgenommen. Susy Schär erzählt, ein russischer Reporter bei einer Paralympics habe ihr gesagt, er kenne diese Menschen nur als Bettler. Dass sie auch an Sportmeisterschaften teilnehmen konnten, war ihm nie bewusst gewesen.
Im September 2024 findet in Zürich die Rad-WM statt. Zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte ist auch die Para-Cycling-WM ein integraler Bestandteil davon. Beide Gruppen fahren dieselbe Strecke unter denselben Bedingungen und zur selben Zeit. «Para-Athletinnen und -Athleten wirken mit ihrem Beispiel über den Sport hinaus», heisst es auf der Webseite der Organisatoren.
«Die Sportprogramme vermitteln dem Publikum in allen Landesteilen der Schweiz gemeinsame, positive Erlebnisse und Lebensfreude», sagt Roland Mägerle, Leiter von SRF Sport. Gerade in Zeiten mit vielen negativen Ereignissen sei Sport ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Über die Rad- und Para-Cycling-WM in Zürich werden die sprachregionalen SRG-Sender redaktionell berichten. «Einzelne Para-Cycling-Rennen werden auch live zu sehen sein», so Roland Mägerle.
Verborgene Chancen in den Schranken
Heute ziert ein Gedenkstein den Heinz-Frei-Platz am Bahnhof in Oberbipp. Ein besonderes Augenmerk: Die breiten, muskelbepackten Oberarme des Rennrollstuhlsportlers. Kein Wunder, muss Heinz Frei doch mit den Händen statt mit den Füssen in die Pedale treten!
Mit seinem Armen radelt Heinz Frei so schnell, dass er seine Frau auf gemeinsamen Rad-Touren öfter auch überholt. Das höre sie aber nicht so gerne, sagt er schmunzelnd. Er wirkt glücklich, wenn er über sein Leben erzählt, über die Ehe, die Kinder, die Gemeinschaft im Dorf. «Als ich frisch gelähmt war, wusste ich nicht, ob ich jemals eine Freundin finden würde», sagt Frei. «Ich wusste nicht, ob ich jemals würde Sex haben können, geschweige denn Kinder!»
Selbst die Ärzte in der Reha-Klinik wussten auf die existenziellen Fragen des jungen Paraplegikers keine Antworten. Wenn Frei heute eine Sache an die Öffentlichkeit trägt, dann ist es ein Vertrauen in das Leben. In die Möglichkeiten, die sich selbst in seinen Schranken verbergen.
«Als ich 2020 in Tokio Silber gewann, war das, als hätte ich doppelt Gold gewonnen!», erinnert sich Frei. Er war zu dem Zeitpunkt 63 Jahre alt, für einen Profi-Sportler eigentlich uralt. Die Silbermedaille brachte ihm mehr Öffentlichkeit ein, als es Gold je getan hatte. Selbst der Spiegel und die New York Times berichteten über ihn. In den über 40 Jahren, in denen Heinz Frei als Para-Athlet aktiv war, galt und gilt er weithin als «Pionier und Legende.» (Quelle) Dass er es mit über 60 Jahren noch zu Silber brachte, inspiriert auch Menschen ohne Behinderungen dazu, ihre sportlichen Träume zu verfolgen.
Noemi Harnickell, März 2023