Katastrophenjournalismus: Drahtseilakt zwischen Tränen und Distanz

Wo Rettungskräfte nach Verwundeten und Verschütteten suchen, finden Medienschaffende ihre Geschichten. Den richtigen Ton zu treffen, wenn man über das Leid von Betroffenen spricht, fordert Fingerspitzengefühl und Menschlichkeit, wie die Erfahrungen einer RSI-Journalistin zeigen.

Ihre Rolle ist herausfordernd, aber wichtig: Bei Naturkatastrophen gehören Journalist:innen nach den Rettungsdiensten oft zu den ersten, die vor Ort sind. Sie sind für die Kommunikation zwischen der von der Krise betroffenen Region und dem Rest des Landes mitverantwortlich. Eine Kommunikation, die objektiv sein muss, die nicht reisserisch oder instrumentalisierend sein darf. Eine Kommunikation auch, welche die von der Katastrophe betroffenen Menschen respektieren, unterstützen und schützen muss. Es ist ein Drahtseilakt zwischen der Verlockung reisserischer Bilder und einer pietätsvollen Berichterstattung, die den Schicksalen von Betroffenen gerecht wird.

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Die eingestürzte Visletto-Brücke im Maggiatal.

Sharon Bernardi, RSI-Journalistin und stellvertretende Leiterin der Regionalnachrichten, hat Ende Juni 2024 die dramatischen Ereignisse in der Region Vallemaggia in der italienischsprachigen Schweiz verfolgt und darüber berichtet. Heftige Unwetter führten damals zu Überschwemmungen, die elf Menschenleben forderten und unermessliche seelische Wunden und materielle Schäden verursachten.

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Zum Glück können wir darüber berichten, was in unserem Gebiet in einer so schwierigen Zeit passiert. Es ist wichtig, dass wir so nah dran sind. Das ist die einfühlsamste Art von Service public.»
Sharon Bernardi, RSI-Journalistin und stellvertretende Leiterin der Regionalnachrichten
Zu Fuss mit Kamera: Arbeiten unter erschwerten Bedingungen

Was sie im Sommer 2024 gesehen habe, erzählt Sharon Bernardi, sei etwas, das eigentlich niemand sehen wolle: «Eine Katastrophe von anhaltender und wiederholter Wucht, die zuerst erzählt und dann erklärt werden muss. Das ist mir in so vielen Jahren Journalismus noch nie passiert.» In den Monaten nach der Katastrophe hat sie das betroffene Gebiet mehrfach besucht. Zunächst sah sie die bestürzten Gesichter der Bewohner:innen. Diese waren gezeichnet von der Trauer über den Verlust von Freund:innen und Bekannten und von der Ohnmacht gegenüber der Naturgewalt, die das ganze Gebiet bis zur Unkenntlichkeit zerstört hatte. «Dann, nach und nach, kam in den Menschen, die ich interviewte, der Wille zum Neubeginn auf. Resilienz», erzählt sie. Und genau diesen Willen zum Neubeginn, auch die Hoffnung, habe sie den Zuschauer:innen weitergeben wollen.

Die Berichterstattung aus Katastrophengebieten ist für Medienschaffende auch in Bezug auf die Arbeitsbedingungen herausfordernd. «Vor allem in den ersten Tagen waren die logistischen Bedingungen sehr kompliziert», sagt Sharon Bernardi. Da die Strassen teilweise unpassierbar waren, waren die Journalist:innen oft zu Fuss unterwegs, stets mit Kameras auf den Schultern. Eine weitere Herausforderung waren laut Sharon Bernardi die Mobilfunkverbindungen – häufig funktionierte das Netz nicht oder der Empfang war instabil. Vor jeder Live-Sendung hätten die Verbindungen geprüft werden müssen, was sehr zeitaufwendig gewesen sei. «Einmal brach die Leitung wenige Sekunden vor der Live-Schaltung zusammen und ich musste mit meinem Handy in der Hand auf einem Steg hin und her laufen, um die richtige Stelle für die Sendung zu finden», sagt die Journalistin.

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Lostallo, eine von den Unwettern schwer getroffenen Gemeinden.

Wenn die Ungewissheit zermürbt

Ein Haus, das von der Katastrophe betroffen war, ist das von Renzo Mazzolini und seiner Familie in Sorte, einem Ortsteil der Gemeinde Lostallo. Inzwischen wäre das Haus wieder bewohnbar, aber es liegt in der roten Zone – das heisst, es darf nicht bewohnt werden. Renzo Mazzolini ist mit seiner Familie deshalb in ein Mietshaus in Lostallo umgezogen, vier Kilometer von ihrem ehemaligen Daheim entfernt. Die Kosten bezahlt die Familie aus eigener Tasche. Renzo Mazzolini erzählt, dass die Situation für ihn und die anderen 15 aus Sorte vertriebenen Personen materiell, aber vor allem emotional schwierig ist.

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Zerstörte Häuser im Misoxtal.

«Die Ungewissheit hält einen auf Trab und zermürbt einen. Es ist unmöglich, in Ruhe zu leben. Aber wir machen weiter in der Hoffnung, dass alles wieder so wird wie vorher.» Die Anwesenheit der Medien sei für die Einwohner:innen von Lostallo wichtig, sagt der Tessiner. Dadurch seien mehr Menschen für die Tragödie sensibilisiert worden. «Wir hoffen, dass der Vorfall auch in Zukunft nicht in Vergessenheit geraten wird.» Ebenfalls seien die Medien in moralischer Hinsicht sehr wichtig: «Man fühlt sich weniger allein.»

Die Kraft der Solidarität

Für Journalistin Sharon Bernardi war die Solidarität im Katastrophengebiet etwas, das sie sehr beeindruckt hat. Die Bewohner:innen hätten sich gegenseitig geholfen, aber auch für Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Medienschaffende gekocht. Ihre Arbeit – und somit die Medienberichterstattung – sei geschätzt und unterstützt worden.

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RSI-Journalistin Sharon Bernardi.

«Als die Strassenverbindungen etwa noch ausschliesslich für Rettungsfahrzeuge reserviert gewesen waren, fuhr ein Gemeindesekretär unser Team zu den am stärksten zerstörten Orten.» Aus den Rettungskräften, Feuerwehrwehrleuten, Medienschaffenden und der lokalen Bevölkerung sei eine eingeschworene, sich unterstützende Gemeinschaft entstanden, sagt Sharon Bernardi. «So etwas habe ich noch nie erlebt.»

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Die Wirkung der im Fernsehen ausgestrahlten Bilder hat eine grosse Unterstützung und eine Welle der Solidarität ausgelöst.»
Nicola Giudicetti, Bürgermeister von Lostallo

Die vielen Medienanfragen aus in der italienischsprachigen Schweiz und der restlichen Schweiz waren für Nicola Giudicetti, Bürgermeister von Lostallo, herausfordernd – aber auch eine positive Erfahrung: «Die Beziehungen zu den Journalist:innen waren gut bis ausgezeichnet.» Er habe einige Medienschaffende bei der Suche nach Bildmaterial begleitet. «Die Wirkung der im Fernsehen ausgestrahlten Bilder hat eine grosse Unterstützung und eine Welle der Solidarität ausgelöst», erzählt der Bürgermeister. So hatten die privaten Spenden einige Wochen nach den Ereignissen in Mesolcina bereits eine Million Franken überschritten. Die Glückskette sammelte im Rahmen ihrer Kampagne «Unwetter Schweiz 2024» bis Ende Januar 2025 mehr als 13 Millionen Franken. Zahlreiche Tessiner Gemeinden haben dem Vallemaggia und dem Mesolcina zudem finanzielle Unterstützung angeboten.

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Nicola Giudicetti, Bürgermeister von Lostallo.

Sensibilität und Professionalität verbinden

Sharon Bernardi hat die Berichterstattung aus dem Katastrophengebiet nicht nur vor logistische, sondern auch vor menschliche und emotionale Herausforderungen gestellt. «Man darf dabei nicht unsensibel sein, muss aber gleichzeitig professionell erscheinen.» Mehr als einmal sei es vorgekommen, dass sie Interviews habe unterbrechen müssen: «Weil die Emotionen jedes Wort erstickten. Sogar mein eigenes.» So geschehen bei einem Ehepaar, das ihr seine Flucht in der Unwetternacht schilderte. Oder beim Gespräch mit dem Mitarbeitenden des Care-Teams, der selbst vor den Kameras weinte. Sie habe sich oft nach dem Sinn dessen gefragt, was sie täglich tat, nach der richtigen Form für ihre Arbeit. «Und ich trug jeden Tag die Worte mit mir, die mir ein Journalistenkollege sagte, als ich gerade angefangen hatte: ‹Erzähle, was du siehst, und nimm dir immer die Zeit, deine Worte sorgfältig zu wählen›», sagt Sharon Bernardi. Das habe sie versucht umzusetzen.

Keri Gonzato, Oktober 2024

Sonderbeitrag über das Mesolcina und das Vallemaggia

Im September 2024 widmete RSI einen ganzen Abend der Mesolcina und dem Vallemaggia. LA 1 sendete live aus Cevio, Prato Sornico und Sorte (Lostallo). Bei den Übertragungen kamen diverse Expert:innen und Betroffene zu Wort: So etwa die Bürgermeister:innen dreier Gemeinden, ein Kantonsgeologe, ein Experte von Meteo Schweiz, der Koordinator des Krisenstabs, Bewohner:innen von betroffenen Gemeinden und Vetreter:innen des Amts für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden. Die Sendung thematisierte finanzielle Hilfe durch Kanton und Bund und erinnerte an die Ereignisse und die Opfer der Katastrophe. Zudem bot sie die Gelegenheit, über den Wiederaufbau und die Zukunft zu sprechen.

Kommentar

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