RSI-Archiv: Zeitmaschine, Schatzkammer und kollektives Gedächtnis

Im RSI-Archiv lagern Hunderttausende von Bildern, Tönen und Geschichten, die von der Identität der italienischen Schweiz erzählen: Es ist das historische Gedächtnis der Region. Das Archiv kann von allen durchstöbert und genutzt werden, ob für private oder berufliche Zwecke.

«Es ist eine Zeitmaschine. Wir können damit unsere Geschichte wiederentdecken und mit der Gegenwart in Verbindung bringen.» So beschreibt Olmo Giovannini das RSI-Archiv. Und er muss es wissen: Der Archivierungsspezialist ist bei RSI mitverantwortlich für rund 500’000 Stunden an Video- und Audiomaterial, 1 Million Artikel und 250’000 Fotografien. Das Archiv ist aber weitaus mehr als eine Sammlung audiovisueller Aufnahmen. Es ist ein Ort der Erinnerung, der kollektiven Identität. Heute befindet es sich in der Gemeinde Comano, in der Nähe von Lugano. Ein Team rund um Giovannini kümmert sich um die Katalogisierung, den Erhalt und die Aufwertung dieses kulturellen Erbes.

«
Heute bewahren wir mehr als 90 Jahre Radiogeschichte und über 60 Jahre Fernsehgeschichte auf.»
Olmo Giovannini, RSI
Früher fehlte das Bewusstsein, Inhalte zu bewahren

Seit ihrer Gründung im Jahr 1931 berichtet die SRG täglich über die Schweiz und zeichnet dadurch ein Bild der Gesellschaft und ihrer Entwicklung. «Anfänglich lag das Ziel auf der Ausstrahlung von Inhalten. Es gab noch kein Bewusstsein dafür, die Inhalte für die Zukunft zu bewahren», erklärt Giovannini. So wurde ein Grossteil des Materials, das in den ersten Jahren von RSI live ausgestrahlt oder im Studio produziert wurde, gar nicht erst aufgezeichnet oder schnell gelöscht – vor allem, weil die damals verwendeten Filmrollen teuer waren und überschrieben werden konnten. Viele Aufnahmen, die auf 16-Millimeter-Film gemacht wurden, sind allerdings aufbewahrt, katalogisiert und digitalisiert worden. «Ein echtes Archiv entstand dann aber erst in den 1980er-Jahren», erzählt Giovannini. «Und heute bewahren wir mehr als 90 Jahre Radiogeschichte und über 60 Jahre Fernsehgeschichte auf.»

Digitalisierung erleichtert Zugänglichkeit

Dem Archivierungsspezialisten ist es wichtig zu betonen, dass das Archiv nicht RSI gehört. «Es ist ein öffentliches Gut, das die gesamte Gesellschaft nutzen kann, um Neues zu entdecken, zu reflektieren und zu schaffen.» Die Digitalisierung erleichtert die Zugänglichkeit des Archivs für die Öffentlichkeit: Heute umfasst der Bereich «Archivi» auf der RSI-Webseite verschiedene Rubriken, Dossiers sowie die Rubrik «Rivediamoli», in der man ganze Sendungen erneut ansehen kann. Für Personen, die das aufbewahrte Material beispielweise für wissenschaftliche Zwecke nutzen möchten, bietet das Archiv-Team auf Anfrage Unterstützung.

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1979: Ezio Guidi und Mascia Cantoni präsentieren «Giochi senza frontiere».

Archive RSI

Ein Grossteil des Archivs ist über die Kataloge von Bibliotheken und Bildungseinrichtungen einsehbar. Damit können es Geschichtsinteressierte, Künstler:innen, Studierende und Forschende für ihre Arbeit verwenden, etwa für audiovisuelle Produktionen oder den Schulunterricht. «Seit einiger Zeit stelle ich mit Freude fest, dass die Aktivitäten des Archivs auch von jüngeren Menschen mit Interesse verfolgt werden, insbesondere über unsere Social-Media-Profile», sagt Giovannini.

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1969: Marco Blaser und Eugenio Bigatto kommentieren den historischen Moment der Mondlandung.

Archive RSI

Wird es genutzt, wird das Archivmaterial zum Leben erweckt. Die Vergangenheit tritt mit der Gegenwart in Dialog und regt das kritische Denken an. Darüber hinaus spielen Archive wie jenes von RSI gerade in der heutigen Zeit, in der Informationen schnell und flüchtig sind, eine wichtige Rolle: Sie bewahren einen Teil der Vergangenheit auf überprüfbare Weise und ermöglichen es, gesellschaftliche und politische Entwicklungen nachzuvollziehen. Und sie fördern das gegenseitige Verständnis, indem sie Stimmen aller Art aufbewahren, nicht nur die dominanten, sondern auch jene von Minderheiten.

«Eine Welt, in der man sich leicht verlieren kann»

Eine Künstlerin, die mit dem Archivmaterial arbeitet, ist Francesca Rudel. Ihr 2025 erschienener Kurzfilm «Tu sei la pietra a cui passo di fianco» entstand aus dem Wunsch heraus, Archivmaterial wiederzubeleben, und sich gleichzeitig mit Geschlechterfragen und den damit verbundenen Spannungen in der Schweiz auseinanderzusetzen.

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Francesca Rudel bei der Präsentation ihres Kurzfilms «Tu sei la pietra a cui passo di fianco» in Rom.

zVg

«Der Film erzählt die Geschichte eines Mädchens, das durch persönliche Erfahrungen und seiner Teilnahme an den Veränderungen in der Schweizer Gesellschaft ein eigenes Bewusstsein für seine Rolle als Frau entwickelt», sagt die Regisseurin. Die Bilder aus dem Archiv hätten die Erzählung des Films geleitet: «Ich habe nach privaten Familienvideos gesucht, um die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern innerhalb des persönlichen Mikrokosmos aufzuzeigen und sie mit den systemischen Ungleichheiten in Verbindung zu bringen.»

Es sei für die Geschichte nützlich und spannend gewesen, im Archiv auch Reportagen über das Frauenstimmrecht oder den nationalen Frauenstreik von 1991 zu finden, so Francesca Rudel. Angesichts der Fülle des Materials sei sie froh gewesen, dass sie von Archivmitarbeitenden unterstützt worden sei: «Denn das Archiv ist eine Welt voller Ressourcen, in der man sich leicht verlieren kann.»

Die Kraft des Audiovisuellen

Auch Filmemacherin Ambra Guidotti hat für ihr Werk «La Svizzera degli altri» auf Archivmaterial von RSI zurückgegriffen. Es erzählt anhand der Familiengeschichte von Guidotti von der italienischen Einwanderung im Tessin und in der Schweiz, vom Rassismus und der Gleichgültigkeit, dem die in den 1960er-Jahren in die Schweiz eingewanderten Italiener:innen ausgesetzt waren.

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Junge Italiener, die in den 1960er-Jahren in einem Steinbruch im Tessin gearbeitet haben: Eines der Archivbilder aus Ambra Guidottis Film.

Archive RSI

«Das Archiv gibt denen eine Stimme, die Diskriminierung und Ungerechtigkeit erlebt haben», sagt die Filmemacherin. Sie habe sich vom Material leiten lassen. «Dabei konnte ich ein Thema herausarbeiten, das auch heute noch aktuell ist: die Einwanderung. Denn die Protagonist:innen mögen sich geändert haben, nicht aber die Dynamiken», sagt sie. Und so zeigt ihr Film eine Geschichte, die sowohl persönlich als auch kollektiv ist.

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Filmemacherin Ambra Guidotti erzählt in «La Svizzera degli altri» anhand von Archivaufnahmen von der italienischen Einwanderung in die Schweiz.

zVg

Im Vergleich zum geschriebenen Wort sieht Ambra Guidotti in audiovisuellen Archiven mehr Kraft: «Die visuelle Form hat eine unmittelbarere und stärkere Wirkung. Bilder sprechen zu uns, berühren uns, konfrontieren uns mit Gesichtern, Stimmen und Kontexten, die wir nicht ignorieren können.»

«
Archive bewahren das historische Gedächtnis des Landes.»
Ambra Guidotti, Filmemacherin

So hätten audiovisuelle Archive einen entscheidenden Wert für die Gesellschaft: «Sie bewahren das historische Gedächtnis des Landes. Und ermöglichen uns, uns an unsere Wurzeln zu erinnern und darüber nachzudenken, wer wir waren und wie wir hierhergekommen sind.»

Keri Gonzato, August 2025

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